Der Fürst der Maler
Violetta, Fioretta, Eleonora. Und mich – als Muse der Tragödie! So siehst du mich also!«
Felice weinte, und ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten.
Sie riss sich los und kletterte fluchtartig die Leiter hinunter.
Ich folgte ihr langsamer und gab ihr Zeit, ihre Tränen zu trocknen.
»Sappho hat noch kein Gesicht«, schluchzte sie und deutete auf die Skizze der Dichterin am linken unteren Bildrand. »Ist auch sie eine von deinen Geliebten?«
»Ja«, gestand ich.
»Wer ist sie?«
»Ich weiß es nicht …«
»Du weißt es nicht?«, fragte sie ungläubig.
»Sie kam in der Nacht zu mir. Ich habe ihr Gesicht niemals gesehen. Außerdem war ich … nicht ganz nüchtern«, gestand ich.
»Aber du liebst sie, sonst hättest du sie nicht in dieses Fresko gemalt. Wann willst du ihr Gesicht malen?«
»Wenn ich sie gefunden habe, Felice.«
»So lange wird dein Fresko nonfinito bleiben?«, fragte sie, dann wandte sie sich ab. Sie zögerte, als ob sie etwas sagen wollte. Doch dann nahm sie die Göttliche Komödie vom Werktisch, schlug den 22. Gesang auf und las:
»Bei diesen Worten musste Statius lächeln
ein wenig erst, dann sprach er: ›Alle Worte
von dir sind mir ein Zeichen deiner Liebe.
Gewiss erscheinen oftmals manche Dinge,
die zu vermuten falschen Anlass geben,
weil ihre wahren Gründe noch verborgen.‹«
Sie klappte das Buch zu, drückte es mir in die Hand, küsste mich auf die Lippen und verschwand, wie sie gekommen war.
Ich blieb hinter ihr zurück und dachte über Felices Worte nach.
Was hatte sie damit gemeint: dass manche Dinge anders erschienen, als sie wirklich waren? Das Buch entglitt meiner Hand und fiel zu Boden.
Ich stand wie erstarrt.
Was wusste Felice von der geheimnisvollen Sappho?
»!oim olegnA«, las ich verwundert, »!trettühcsre feit nib hcI«
Gianni hatte mir Leonardos Brief auf das Malgerüst gereicht, während ich Malpomene, die Muse der Tragödie, malte.
Leonardo hatte mir noch nie einen seiner Briefe in Spiegelschrift geschrieben. Er nutzte sie nur für seine geheimen wissenschaftlichen Aufzeichnungen in seinen Arbeitsheften. Was war geschehen? Was hatte ihn so tief erschüttert? Ich reichte Giulio den Pinsel und sprang vom Gerüst.
Ich ging hinüber in den Saal, schloss die Tür hinter mir, ließ mich an meinem Zeichentisch nieder und schob Konstruktionspläne und Skizzen zur Seite. Mühsam versuchte ich, Leonardos Schrift zu entziffern. Er, der sonst wie gedruckt schrieb, hatte sich von seinen Gefühlen überwältigen lassen.
»!tot tsi ordnaS dnuerF resnu nned, rim tim reuarT«, las ich. Ich nahm einen Spiegel und hielt ihn schräg gegen die Seite:
»Sandro Botticelli verließ diese Welt am siebzehnten Tag des Monats Mai im Jahr 1510, um seine geliebte Simonetta Vespucci wiederzusehen. Und um Gottvater im Himmel zu porträtieren.«
Ich ließ Leonardos Brief sinken. Sandro war tot! Tränen traten in meine Augen, und ich war minutenlang unfähig, weiterzulesen. Ich saß an meinem Tisch und weinte, als Giulio den Saal betrat.
»Raffaello! Der Verputz trocknet …«, erinnerte er mich sanft. »Wann kommst du zurück?«
»Lass mich allein, Giulio! Ich kann jetzt nicht malen. Male du es zu Ende«, bat ich ihn.
Er verschwand und schloss leise die Tür hinter sich.
Ich starrte die Kerze vor mir auf dem Tisch an, deren Flamme im Luftzug flackerte. Wie schnell sie herunterbrannte! Um am Ende zu verlöschen …
In Perugia hatte mich Gianni Il Furioso genannt, weil ich schnell arbeitete, weil ich unzählige Aufträge gleichzeitig erledigen konnte, das Äußerste von mir und meinen Schülern verlangte, weil ich nie müde wurde.
In Rom nannte man mich Il Furioso, weil ich schnell und intensiv lebte, weil ich neben den Fresken in den Stanzen noch Porträts und Madonnen malte, als Architekt arbeitete und als Bildhauer, Geschirr und Schmuck und Bühnenbilder für Theateraufführungen entwarf, weil ich mich nicht damit begnügte, der beste Maler Italiens zu sein, der Hofmaler des Papstes, sein Architekt, sein künstlerischer Berater, sein Freund, weil ich keine Einladung zu einem Bankett oder Maskenball ausschlug, weil ich im schönsten Palazzo in der Via Giulia wohnte, weil ich die schnellsten Pferde ritt und die mächtigsten und reichsten Männer Italiens zu meinen Freunden zählte.
Ich war Il Furioso, der Geliebte der Götter, der Verführer der Musen. Der Papst, die Kardinäle, ganz Rom wartete auf neue Wunder, auf Evangelien und Credos, auf immer neue Mysterien
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