Der Fürst der Maler
kommen konnte, wäre eine leichte, spielerische Veränderung der Melodie, eine Wiederholung des Refrains, eine Beschleunigung des Rhythmus. Ein da capo.
Ich verließ die Stanza della Segnatura und ging in den Nachbarraum. Wegen der nächtlichen Schwüle standen die Fensterflügel weit offen. Ich trat an das Fenster und blickte hinüber zur Sixtina, die nur wenige Schritte entfernt aus der Dunkelheit der Neumondnacht aufragte. Auf dem Gerüst, das ich durch die offenen Kapellenfenster erkennen konnte, brannte noch Licht. Also arbeitete er noch. Dieser Verrückte!
»Michelangelo!«, brüllte ich hinüber.
Ich konnte seine Schritte auf dem hölzernen Gerüst hören. Wenig später erschien er an einem der offenen Fenster. »Was willst du, Raffaello?«
»Es ist Mitternacht. Was machst du noch in der Sixtina?«
»Und was machst du noch in der Stanza?«, konterte er.
»Malen«, brüllte ich hinüber.
Was sonst, dachte ich bei mir.
»Bist du fertig mit dem Numine Afflatur? «, fragte er.
»Ja. Pindar hat gesprochen.«
Er lachte, sagte aber nichts.
Ob er sich das Fresko gerne angesehen hätte?
» Buona notte, mio caro . Schlaf gut!«, rief ich.
»Das werde ich. Wenn ich fertig bin«, erinnerte er mich. Wie jeden Abend.
Wie oft hatten wir in den letzten Wochen diese Unterhaltung über dem Abgrund zwischen der Sixtina und dem Torre Borgia geführt! Seit sein schwelender Streit mit Gianni und Perino vor einigen Wochen zu lodernden Flammen des Hasses entflammt war und Bastiano Öl ins Fegefeuer goss, sahen wir uns kaum noch. Michelangelo schloss sich ein, ließ niemanden in die Sixtina außer Julius und mir. Selbst Bramante als Baumeister des Papstes hatte er seinen Schlüssel abgenommen, als er bemerkte, dass dieser eines Nachts in der Kapelle gewesen war, um nach dem Fortschritt der Fresken zu sehen.
Ich durchquerte die Gänge des Alten Palastes, in dem sich Papst Julius’ Wohnung befand, stieg hinunter in den Hof. Meine Leibwache aus vier Schweizer Gardisten erwartete mich mit brennenden Fackeln am Ende der Treppe, die zum Geheimgarten von Papst Nicolaus V. führte. Ich durchquerte den Garten unterhalb der von Donato Bramante gebauten Loggia, in dem ich oft mit Giovanni de’ Medici spazieren ging. Während vom Torwächter das Portal zur Piazza San Pietro geöffnet wurde, gürtete ich mich mit meinem Degen, den mir einer meiner Leibwächter reichte, hüllte ich mich trotz der nächtlichen Schwüle in einen schwarzen Umhang und setzte eine Maske auf.
Der Platz war dunkel, und meine Leibwache bildete einen engen Kordon um mich, um mich vor einer Entführung oder einem Attentat zu schützen. Erst vor wenigen Tagen war Gian Antonio Sodoma auf dem Heimweg in der Via Alessandrina überfallen und zusammengeschlagen worden – obwohl er maskiert gewesen war und er seine bewaffneten Leibwächter bei sich gehabt hatte!
Die Pferde wurden von den Schweizer Gardisten vorgeführt. Dann stiegen wir in die Sättel und ritten entlang des Passetto, des Geheimganges zwischen den vatikanischen Palästen und der Engelsburg, die Via Alessandrina hinab, überquerten den Tiber und erreichten wenig später den Palazzo Chigi in der Via dei Banchi.
Einem der Diener reichte ich meinen Umhang, meinen Degen und meine Maske und stieg die breite Marmortreppe hinauf ins Piano Nobile.
Agostino empfing mich in seinem Studiolo.
»Bitte entschuldige, es ist spät geworden, Agostino«, sagte ich zur Begrüßung und küsste ihn auf beide Wangen. »Ich hoffe, du hast nicht mit dem Essen auf mich gewartet.«
»Ich bin selbst erst vor einer halben Stunde aus dem Vatikan gekommen«, gestand er.
»Was ist los?«, fragte ich überrascht, als ich ihm in den Speisesaal folgte.
»Ich war bei Giuliano. Ich bin mit ihm die Bilanzen seines Unternehmens durchgegangen.«
Ich habe Agostino in all den Monaten nie von ›Seiner Heiligkeit‹ oder vom ›Heiligen Vater‹ oder von ›Papst Julius‹ sprechen gehört. Die enge Freundschaft zwischen beiden stammte aus der Zeit, als Papst Alexander den Kardinal Giuliano della Rovere ins Exil nach Avignon verbannt hatte und der Bankier Chigi die Feldzüge Cesare Borgias und seiner französischen Verbündeten in der Romagna finanzierte.
»Die Bilanzen?«, fragte ich, als ich ihm gegenüber an der gedeckten Tafel Platz nahm.
Ein Diener breitete Fingertücher aus Florentiner Damast über unseren Schoß und schenkte uns Wein ein.
»Giuliano führt die Kirche wie ein Familienunternehmen der della Rovere. Mit Soll
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