Der Fürst der Maler
Antonio Tebaldeo, nicht wahr?« Sie wartete meine Antwort nicht erst ab. »Neben ihm steht Jacopo Sannazaro in ein Gespräch vertieft mit Theokritos von Syrakus. Und daneben …« Sie stutzte, trat zwei Schritte näher und hob die Augenbrauen, ohne die Skizze aus den Augen zu lassen. »Das soll wohl der Dichter Giovanni Boccaccio sein … aber seine Gesichtszüge sind die des Malers Pietro Perugino.« Sie schüttelte den Kopf, als würde sie nicht glauben, was sie sah. »Und neben ihm steht mein Lieblingsdichter Ludovico Ariosto und sieht den Betrachter von der Höhe des Parnassos aus an. Und doch: Ist er es oder ist er es nicht? Es ist genauso viel vom Dichter Ariosto wie vom Maler Michelangelo in dieser Figur.«
Felice trat einen Schritt zurück, um das ganze Bild zu betrachten. Dann hielt sie den Atem an. »Homer hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Leonardo da Vinci. Und Theokritos auf der rechten Seite der Wand sieht aus wie Bernardino Pinturicchio. Und Vergilius, der Dante den Berg hinaufführt – das ist doch dein alter Maestro Timoteo Viti. Und rechts neben ihm: Das bist du selbst.«
»Ja, das bin ich.«
»Du hast mit Timoteo Viti, Perugino, Pinturicchio, Leonardo und Michelangelo deine Führer durch das Inferno der Kunst gemalt«, rief Felice aus. »Du hast gar nicht den Parnassos gemalt, das Reich der Dichter, sondern deinen eigenen langen Weg hinauf auf den Olympos der Malerei. Deine Führer durch das Inferno und deine Musen. Du selbst an der Seite des Vergilius. Das Bild ist eine Szene aus der Divina Commedia, nicht wahr?«
Felice trat an den Werktisch und nahm das Buch in die Hand, das sie mir vor Jahren geschenkt hatte. Mit zitternden Händen schlug sie die ersten Seiten auf und fand ihre eigenen Worte: ›Ist unser Leben nicht eine Göttliche Komödie?‹ Sie blätterte weiter, suchte die richtige Seite, fand sie und begann laut zu lesen:
»›Und er‹ – hier spricht der Dichter Statius – ›zu ihm‹ – Vergilius:
›Du hast mich erst gesendet
auf zum Parnass, an seinem Quell zu trinken,
dann hast du mir den Weg zu Gott erleuchtet.‹«
Felice deutete auf das Bild Timoteo Vitis, der mir mit ausgestreckter Hand den Weg weist. Dann las sie weiter:
»›Du tastest, wie wenn einer nächtens wandert,
das Licht nach hinten hält und sich nicht nützet,
doch hinter sich den Weg weist für die Leute.‹
Das ist aus dem 22. Gesang des ›Läuterungsberges‹. Du selbst bist der Dichter Statius, von dem Dante sagt, er büße im Inferno nicht für den Geiz, sondern für die Verschwendung. In der Tat, Raffaello, du verschwendest dich selbst. Wie Statius leuchtest du deinen Schülern den Weg. Und du selbst bleibst allein im Dunkel.« Sie nahm meine Hand. »Dieser gemalte Parnassos und der vatikanische Hügel, den man durch das offene Fenster unterhalb des Bildes erkennen kann, ist dein Läuterungsberg. Dein Elysion! So nannte mein Vater das Fresko, als er mir davon vorschwärmte.«
Nicht Elysion, sondern Katharsis – so nannte ich dieses Fresko!
Felice wandte sich wieder dem Bild zu und trat einen Schritt vor. »Direkt über dem Fenster sitzen die Musen an den Hängen des Parnassos und lauschen den himmlischen Klängen der Lyra des Apollon. Timoteo Viti hat die Gesichter nur angedeutet …« Sie sprach nicht weiter und starrte auf die Kohlezeichnungen an der Wand. Mit zwei, drei schnellen Schritten eilte sie zur Leiter und stieg auf das Gerüst, um die Gesichter der Musen aus der Nähe betrachten zu können.
»Felice!«, rief ich und kletterte ihr hinterher.
Das Gerüst war schmal, und sie hielt sich an mir fest, um nicht herunterzufallen. Ganz nah trat sie an die Muse Erato heran, um das abgewandte Gesicht zu erforschen, das nicht mehr war als ein Schatten an der Wand.
Felice deutete auf ihr Antlitz. »Das ist Eleonora«, sagte sie. »Als Muse Erato. Und links neben ihr die Muse Klio mit dem Gesicht von Fioretta. Und neben ihr Thalia … Wer ist Thalia?«, fragte sie mich.
»Violetta Vannucci, Pietro Peruginos Tochter.«
»War auch sie eine deiner Geliebten?«, fragte Felice.
»Vor langer, sehr langer Zeit«, sagte ich.
Es war nicht der Zorn, der Felices Augen funkeln ließ. Felice ging einen Schritt weiter. »Das dort ist die Muse Kalliope, nicht wahr? Mit dem Gesicht von Clarissa Buffa. Und daneben – ich selbst, als Malpomene mit der Maske in der Hand«, rief sie aus. Tränen rannen über ihre Wangen. »All deine Musen hast du in dieses Bild gemalt, Raffaello! Clarissa,
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