Der Fürst der Maler
hast?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ich schließlich.
»Frag sie!«, forderte sie.
»Was soll ich sie fragen? Ob sie mich liebt? Ob sie den Rest ihres Lebens mit mir verbringen will?«
»Das wäre ein Anfang.«
»Es wäre der Anfang vom Ende«, sagte ich.
Sie setzte sich auf, entwand sich meinen Armen, erhob sich vom Bett. Schweigend hob sie ihre Maske, ihre Schuhe und ihr Kleid vom Boden auf und verschwand. Zornig wie eine Erinnye.
Warum sie weinte, weiß ich nicht.
Eine Stunde lang lag ich wach und wälzte mich im Bett, als könnte ich so meine Gedanken abschütteln.
Diese Frau war die Erfüllung meiner Wünsche! Wie konnte ich sie nur gehen lassen!
In der Morgendämmerung erhob ich mich, zog mich an und ging hinüber in Giannis Schlafzimmer.
»Bist du krank? Hast du Fieber? Du bist so unruhig.« Gianni setzte sich im Bett auf und beobachtete mich besorgt, als ich wie gehetzt in seinem Schlafzimmer auf und ab lief.
»Nein!« Ich wich seinem Blick aus. »Ich bin nicht krank.«
»Dann ist es wirklich schlimm.« Gianni lächelte nachsichtig. »Bist du verliebt? Oder hast du heute Nacht einfach nur den Verstand verloren?«
»Wer war diese Frau?«, unterbrach ich ihn. »Erzähle mir alles, was du über sie weißt, Gianni.«
Er stöhnte und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Er strich sich mit beiden Händen über das Gesicht und schien zu überlegen, ob er mir das Wenige, das er wusste, überhaupt erzählen sollte. »Sie kam gestern zu mir. Maskiert. Aber das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Wer ist sie?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du sie nicht gefragt?«, wollte ich ungeduldig wissen.
»Nein …«
Ich ging zur Tür. Gianni sah mich alarmiert an. »Wohin willst du?«
»Ich werde sie suchen.«
»Wozu?«, fragte er verzweifelt.
Gianni hatte Recht. Was hätte ich ihr eigentlich sagen wollen? Und wo sollte ich sie finden? Ich wusste weder ihren Namen, noch woher sie gekommen war. Oder was sie von mir wollte.
Außer mein Leben in Unordnung zu bringen.
Das Entrollen des großen, festen Kartons hatte wie ein fernes Gewitter durch die Stanza della Segnatura gedröhnt. Perino, Polidoro und Gio’ hatten das steife, auf Leinen geleimte Papier geglättet, während Gianni, Giulio, Raffaellino und Timoteo auf das Gerüst geklettert waren, um den Karton an der zu freskierenden Wand zu befestigen. Er war so schwer, dass Perino, Polidoro und Gio’ ihn nicht allein anheben und drehen konnten. Bastiano und ich hatten ihnen geholfen.
Ich trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie Giulio und Raffaellino die punktierten Umrisse der Figuren auf dem Parnassos mit einem Kohlestaubbeutel auf die Wand übertrugen: Pindar, Sophokles, Euripides. Und auf der anderen Seite: Francesco Petrarca und Baldassare Castiglione.
Als der Karton zusammengerollt und vom Gerüst gehoben worden war, zeichnete Timoteo Viti die punktierten Umrisse mit einem feinen Kohlestift auf die Wand und legte die Giornaten – die Tageseinheiten des Freskos – fest.
Timoteo hatte gelacht, als er das Antlitz des Pindar im Entwurfskarton erkannte. »Das ist dein Vater Giovanni Santi! Als Pindar! Fast höre ich ihn sagen: Ecce homo!, Seht: ein Mensch, der geworden ist, was er war, was er ist und immer sein wird. Dabei deutet er aus dem Bild heraus auf den Betrachter des Bildes.«
Mein alter Maestro zeichnete mit Kohle das zum Himmel erhobene Gesicht des blinden Homer auf die zu freskierende Wand, die gekräuselten Locken, die Schweigen gebietende rechte Hand. Ich hatte dem Dichter die Haltung des Laokoon gegeben, dem Priester des Gottes Apollon, der die Trojaner vor dem hölzernen Pferd der Griechen warnte und deshalb sterben musste. Die Statue des Laokoon war 1506 im Domus Aurea, dem Palast des Kaisers Nero, ausgegraben worden und befand sich seitdem in Julius’ Antikensammlung im Giardino del Belvedere.
Mit schnellen Strichen skizzierte Timoteo das Gesicht des Dante Alighieri links neben Homer, dann auf der anderen Seite sein eigenes Gesicht als Vergilius, Dantes Führer durch Inferno und Paradiso der Göttlichen Komödie.
Timoteo war geschmeichelt gewesen, als ich ihm zum ersten Mal den Entwurf des Parnassos gezeigt und er zu seinem Erstaunen sich selbst in den Skizzen wiedergefunden hatte. »Du bist mein Vergilius«, hatte ich gesagt. »Du hast mich während meiner ersten zögernden Schritte durch das Inferno der Kunst begleitet.«
Während Gianni die Dichter rechts vom Fenster mit Kohle skizzierte, wandte sich Timoteo
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