Der Fürst der Maler
des Erfolges. Was, wenn ich eines Tages keine Wunder mehr vollbringen konnte? Alles unterhalb der Genialität würde von ihrer Kritik gnadenlos zerrissen werden. Sie verlangten von mir das Äußerste, Tag für Tag. Wie sehr ich mich in meinen einsamen Nächten danach sehnte, ein durchschnittlicher Maler zu sein!
»Das Streben nach Vollkommenheit ist eines der gefährlichsten Leiden, die den menschlichen Geist befallen können«, hatte mich Sandro in Florenz gewarnt. »Sie negiert jedes menschliche Maß und bringt dich am Ende um den Verstand.«
Das menschliche Maß hatte ich längst hinter mir zurückgelassen. Ich wurde nicht mehr – wie in Perugia – mit Pietro Perugino oder Bernardino Pinturicchio verglichen. Und nicht mehr – wie in Florenz – mit Michelangelo und Leonardo. Ich wurde nur noch an mir selbst gemessen. An meinem Talent, meine Bewunderer zum Staunen zu bringen.
Wie ich sie hasste, diese Bewunderer, die mir schon morgens beim Verlassen meines Palazzo auflauerten, um mich mit allen Ehren in den Vatikan zu geleiten. In Wahrheit wollten sie mir eine Skizze abschwatzen, einen Bildentwurf verbessert oder gar ein Porträt überarbeitet haben: von der Hand des großen Raffaello! »Maestro, würdet Ihr mir den Gefallen tun und mir eine kleine Skizze von Euch überlassen – für meine Zeichenmappe …« Wie oft hatte ich diese Bitte schon gehört! Ich skizzierte die Hände, die sich mir erwartungsvoll, ungeduldig, ja gierig entgegenstreckten, die mich bedrängten und an mir herumzerrten, und die Blätter wurden mir aus der Hand gerissen. Ich war die Ikone der Kunst, der Mode, der guten Sitten. Sie ahmten mich nach, um mir zu gefallen, sie sprachen mit urbinischem Akzent, lächelten mein Lächeln, und meine Art, mich zu kleiden, wurde zu ihrer Mode. Mein Schneider machte das Geschäft seines Lebens. Sie wollten nicht nur um jeden Preis malen wie ich, sie wollten ich sein: die Kopie von Raffaello Santi – besser als das Original. Sie würden scheitern, denn sie schafften es ja nicht einmal, sie selbst zu sein. Sie wollten meinen Weg gehen, doch wussten sie, wohin ich ging?
Meine Schüler waren um keinen Deut besser. Perino stahl mir meine Ideen, meine Bildentwürfe, um sie selbst zu verwenden. Giulio hatte meinen Malstil übernommen, ohne ihn wirklich zu beherrschen. Raffaellino hatte sich sogar meinen Namen genommen. Gio’ malte als Maestro öfter auf eigene Rechnung für reiche Auftraggeber, als dass er in der Impresa, in der er Teilhaber war, mitarbeitete. Gianni, Il Fattore, nahm hohe Bestechungssummen an, die ihm von Kardinälen und Monsignori geboten wurden, um in einem meiner Fresken verewigt zu werden. Er glaubte, ich wüsste das nicht, weil er mir die Geschäftsbücher vorsichtshalber nicht vorlegte.
Vor einigen Wochen hatte Marcantonio Raimondi aus Bologna um eine ›Audienz‹ bei mir gebeten. Er war zusammen mit Timoteo Viti ein Lehrling in der Werkstatt des Malers Francia gewesen. Maestro Marcantonio war neben Albrecht Dürer der berühmteste Kupferstecher der Welt – nicht nur, weil er einer der besten war, sondern auch, weil er wenige Wochen zuvor in Venedig einen Prozess verloren hatte. Albrecht Dürer hatte Marcantonio Raimondi verklagt, weil der Bologneser unerlaubt Kopien seiner Kupferstiche samt Monogramm angefertigt hatte. Albrecht und Tiziano hatten mir in ihren Briefen von diesem spektakulären Prozess in Venedig berichtet. Nun war Marcantonio nach Rom gekommen, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, nicht Albrecht Dürer, sondern mich zu kopieren: ›den berühmtesten Maler der Welt‹. Allerdings mit meiner Erlaubnis – um einen weiteren Prozess, der ihn in den Ruin getrieben hätte, zu vermeiden. Und um eine Menge Geld mit meinen Ideen zu verdienen – er war wenigstens ehrlich genug, mir das zu sagen: Marcantonio wollte keine Madonna in Kupfer stechen, sondern ›einen echten Raphael ‹ verkaufen. Als sei ich selbst das Kunstwerk!
Sie alle folgten mir, ohne zu verstehen, was ich tat und warum ich es tat. Sie blickten nicht unter die Oberfläche, erkannten nicht den Spiegel im Spiegel. Werde, der du bist! Ahnten sie überhaupt, was diese vier Worte bedeuteten? Jeden Weg zu gehen, um an die eigenen Grenzen zu stoßen! Alle Träume, alle Möglichkeiten zu verwirklichen, um die Existenz, das ›Ich bin‹, bis zur letzten Nische auszufüllen! ›Ich selbst‹ zu sein: Ich, Raffaello. Nicht der Sohn von Giovanni Santi. Nicht der Maestro. Nicht der Freund. Nicht der Geliebte.
Weitere Kostenlose Bücher