Der Fürst der Maler
Keine Rolle mehr zu spielen, niemand anders sein zu wollen. Nicht besser sein zu wollen oder anders. Nur ›Ich selbst‹. Sie glaubten, wenn sie so sein könnten wie ich, würden sie erfolgreich werden. Reich und berühmt. Unsterblich. Wie lange würde es noch dauern, bis sie mich von meinem Sockel stießen, um selbst auf diese brüchige Marmorbasis des Ruhms zu steigen?
Wie diese Kerze vor mir auf dem Tisch brannte ich herunter. Schnell, lautlos. Um am Ende mit einem Flackern zu verlöschen.
Wie Sandro Botticelli verloschen war.
Weinte ich um ihn? Oder um mich selbst?
Sandros Tod hatte Leonardo ebenso verwirrt wie mich. Er gestand mir seine Gefühle für den alten Freund, mit dem er bei Andrea del Verrocchio das Malen erlernt hatte. Ich las weiter in seinem Brief:
»Einige Tage vor seinem Ende rief mich Sandro nach Florenz. Bei Nacht und Nebel habe ich Mailand verlassen, um ihm in seinen letzten Stunden beizustehen. Ich hielt seine Hand, während wir über die Vergangenheit sprachen. Er habe fünfundsechzig Jahre gelebt und fühle kein anderes Gebrechen als die Schwäche des Alters. Er sei nur müde, unendlich müde. Ich saß auf seinem Bett, bis er sanft vom Leben in den Tod hinübergeglitten war. Allein, einsam und von der Welt vergessen. Ich habe geweint. Um Sandro und um mich selbst. Denn genauso wird auch mein Abschied von dieser Welt sein.
Sandro war noch warm, da habe ich seine sterbliche Hülle seziert, das wunderbare Kunstwerk des größten aller Maestros – Gott. Ich habe sein Herz, sein Hirn und seinen Blutkreislauf untersucht. Sogar die Leber habe ich aufgeschnitten. Seine Seele wollte ich finden, das große Mysterium, den Ursprung des Lebens! Ich wollte das Geheimnis der Unsterblichkeit entschlüsseln. Sandro wird mir verzeihen, obwohl ich auch dieses Werk – wie alle anderen zuvor – wohl niemals vollenden werde. Nichts auf dieser Welt wird jemals vollendet werden.«
Nachdenklich faltete ich Leonardos Brief zusammen.
Dann erhob ich mich und ging hinüber in die Stanza. Giulio sah mich überrascht an, als ich auf das Gerüst kletterte, ihm den Pinsel aus der Hand nahm, um die Giornate mit Malpomene, der Muse der Tragödie, zu vollenden.
Denn was gibt es Schlimmeres, als nicht fertig zu werden mit dem, was man sich vorgenommen hat?
Mit einem letzten Pinselstrich an den geöffneten Lippen des Dichters Pindar vollendete ich das Fresko. Der Putz war seit dem Morgen schon so getrocknet, dass er keine weitere Farbe mehr aufnehmen würde. Ich trat einen Schritt zurück, den Pinsel in der Hand. Ja, die Ähnlichkeit mit meinem Vater Giovanni Santi war verblüffend.
Zufrieden mit meinem Tagwerk legte ich den Pinsel weg und kletterte vom Gerüst.
Ich zog den Malerkittel aus und wusch mir Gesicht und Hände in einer Schale Wasser, die neben dem Werktisch mit den Entwürfen für das Letzte Gericht auf der vierten Wand stand. Dann trat ich im düsteren Schein der Kerzen zurück bis zur gegenüberliegenden Wand, um das ganze Bild zu betrachten.
Das Numine Afflatur war das Poem meines Lebens, das Epos vom Aufstieg auf Apollons Parnassos. Gemalt in Terzinen: Pindar, Sophokles, Euripides. Dante, Boccaccio, Petrarca. Vier Musen links von Apollon, vier Musen rechts – eine Spiegelung.
Gemalter Rhythmus. Emphase. Klimax.
Oder doch nur ein Wortspiel?
Sappho als Antithesis zu Pindar.
Ich starrte auf den fehlenden Teil meines Lebens: die nackte, unverputzte Wand, wo das Bild der Sappho gemalt werden sollte. Das Einzige, das im Epos meines Lebens noch fehlte:
Was war die Antithesis zu Pindars ›Werde, der du bist‹?
Das Ticken meiner Uhr war unnatürlich laut in der Stille der nächtlichen Stanza. Ich zog sie aus der Tasche und versuchte im Schein der Kerzen die Zeit zu erkennen. Es war kurz vor Mitternacht, eine unerträglich heiße Nacht im August 1510.
Agostino wartete sicher schon ungeduldig auf mich! Wir waren zum Essen verabredet gewesen … schon vor Stunden!
Agostino hatte mir die Uhr geschenkt, vor neun Monaten. Damit ich Zeit hatte. ›Zeit zum Stehenbleiben. Zeit zum Nachdenken. Zeit, sich umzusehen, um neue Wege zu finden, die auf andere, noch unbestiegene Berge führen‹, das waren seine Worte gewesen – fast ein Versprechen.
Ich war stehen geblieben und hatte nachgedacht über das, was ich noch tun wollte. Der Rest meines Lebens schien dafür zu kurz zu sein. Und doch: War nicht bereits alles getan? War ich nicht schon zu einem Ende gekommen, ohne es zu bemerken? Alles, was noch
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