Der Fürst der Maler
wir allein waren. »Wie konntest du ihn gehen lassen? Ein Zeichen von dir, und er wäre jetzt schon auf dem Weg in die Engelsburg.«
»Wer, Paris? Wer wäre auf dem Weg in die Engelsburg?«, fragte ich geduldig.
»Gian Giordano Orsini! Er hat nicht aus der Karaffe getrunken, weil er weiß, dass das Wasser vergiftet ist. Er ist der Attentäter.«
»Francesco della Rovere hat auch nicht getrunken. Und Giovanni de’ Medici hat sein Glas zurückgestellt«, erklärte ich. »Soll ich alle drei festnehmen lassen, weil sie nicht getrunken haben? Wie lautet die Anklage? Schuldig, weil sie nicht durstig waren?«
Paris stöhnte. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen. Wir wissen nicht, wer der Attentäter ist. Aber wir wissen, dass er jetzt gewarnt ist.«
»Du irrst, Paris! Wir sind einen entscheidenden Schritt weiter, denn wir haben gerade gewürfelt. Der Spielzug auf dem Spielfeld findet allerdings erst heute Nacht statt …«
»Ich verstehe kein Wort!«
»Der Mörder weiß nun, dass Julius von dem vergifteten Wasser getrunken hat. Aber er weiß auch, dass die Dosis noch nicht ausgereicht hat, ihn umzubringen. Die Karaffe ist nun leer und muss wieder aufgefüllt werden. Das wird heute Nacht geschehen, irgendwann nach Mitternacht. Der Giftmischer hat gesehen, wie fast alle der Anwesenden von dem vergifteten Wasser getrunken haben, auch ich …«
»Ja, und?«, fragte Paris de Grassis ungeduldig.
»Er glaubt also, dass wir nicht wissen, dass das Wasser vergiftet war und dass wir unseren Giftbecher geleert haben. Er glaubt, dass er heute Nacht unbeobachtet ist, weil wir uns unter Schmerzen in unseren Betten wälzen.«
»Er könnte zweifeln. Vielleicht glaubt er, dass das Wasser in der Karaffe nicht vergiftet war …«
»Aber das war es, Paris!«
Der Zeremonienmeister des Papstes sah mich entsetzt an. »Wie?«, flüsterte er schwach. »Das Wasser war vergiftet?«
»Nicht mit Cantarella«, beruhigte ich ihn. »Mit einem Geheimrezept von Leonardo da Vinci. Ein wasserlösliches, geschmackloses Pulver mit großer Wirkung: Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Übelkeit und leichtes Fieber. Es verursacht die Symptome der Cantarella, ist aber völlig harmlos. Das Pulver ist einer von Leonardos berüchtigten Scherzen. Er hat manchmal eine erschreckende Art von Humor.«
»Du auch, Raphaël! Du auch«, stöhnte Paris.
»Wer immer der Attentäter ist: Giovanni de’ Medici, Francesco della Rovere oder Gian Giordano Orsini – jeder wird heute Abend jemanden neben sich haben, der an eben diesen Symptomen der Cantarella leiden wird. Und leiden werden sie! Der Mörder wird sich sicher fühlen und heute Nacht in das Schlafzimmer des Papstes kommen.«
Und er kam.
Eigentlich hatte ich von dem vergifteten Wasser nicht trinken wollen, konnte aber Francescos Glas nicht zurückweisen, ohne Verdacht zu erregen und meinen Plan zunichte zu machen. Ich kämpfte selbst mit den Symptomen, die Leonardos Pulver hervorriefen. Mir war schwindelig und heiß, und es fiel mir schwer, nach Mitternacht wach zu bleiben. Meine Augenlider waren schwer wie Marmorblöcke und fielen immer wieder zu. Die undurchdringliche Dunkelheit im Schlafzimmer des Papstes trug nicht gerade dazu bei, dass ich wach blieb.
Ich saß still auf einem Sessel in der Ecke des Raumes und beobachtete die Tür. Am liebsten wäre ich aufgestanden, um ein paar Minuten ans Fenster zu treten und die kühle Nachtluft einzuatmen, aber jedes Geräusch aus dem Schlafzimmer des sterbenden Papstes hätte den Mörder alarmiert. Also blieb ich still sitzen und rang mit meiner Müdigkeit.
Wellen der Übelkeit schwappten durch meinen Magen, und mehrmals war ich kurz davor, mich zu übergeben. Ich hielt die Luft an und drängte die aufsteigenden Gefühle zurück. Wie damals, als ich mit Leonardo in San Marco meine erste Leiche seziert hatte. Im Stillen verfluchte ich Francesco, der mich gezwungen hatte, sein Glas zu leeren.
Wie würde ich reagieren, wenn sich nun die Tür öffnete und Francesco den Raum betrat, um seinem Onkel eine neue Karaffe mit vergiftetem Wasser zu bringen? Francesco war mein Freund, trotz allem. Traute ich ihm den Mord an seinem Onkel zu? Ja. Ich hatte gesehen, mit welcher Kaltblütigkeit er Gian Andrea Bravo in meinen Armen ermordet hatte, um mich mit der Leiche nach Urbino zurückzuschicken. Und dann die mysteriöse Ermordung von Herzog Guido und Luca. War der Marchese Gonzaga der Mörder? Oder Francesco? Im Licht des Mordes an Kardinal Alidosi hatte sich meine
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