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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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hinüber: einem schmalen Loch, das mich an die Beschreibung des Eingangs zum Hades erinnerte.
    Nacheinander stiegen wir die Strickleiter hinab in die Dunkelheit der Unterwelt. Es war kühl in den Grotten.
    Auf allen vieren rutschte ich eine Schutthalde hinunter, und Leonardo folgte mir lachend. Er hatte seinen Spaß! Mit den beiden Fackeln in der Hand krochen wir durch die engen, von den Trümmern der Jahrtausende verschütteten Gänge und betrachteten die herrlichen antiken Fresken an den Wänden, auf die vor eintausendfünfhundert Jahren zum letzten Mal das Licht der Sonne gefallen war.
    ›Grottesken‹ wurden diese wundervollen Ornamente genannt – benannt nach den unterirdischen Grotten, in denen sie entdeckt worden waren. Ich war im Sommer einige Male mit Gio’ durch die Ruinen gekrochen, um Skizzen für die Loggien im Vatikan anzufertigen. Gio’ sollte die Leitung einer Gruppe von Maestros und Gehilfen übernehmen, die die Loggetta ausmalen würde. Er koordinierte die umfangreichen Arbeiten, ohne dass ich mich darum kümmern musste.
    Die antiken Darstellungen in den Grotten faszinierten mich: Bilder aus Ovids Metamorphosen, kleine mythische Szenen, Ornamente und Girlanden und Szenen kleiner Putti, die Wagen lenkten, die von Schnecken, Schildkröten, Schmetterlingen und Drachen gezogen werden.
    Die Grotten waren eine Schatzkammer voller Ideen!
    »Plinius hatte Recht«, rief Leonardo begeistert in das Echo seiner eigenen Worte hinein. »Das sind enkaustische Fresken. Die Technik, mit der ich in der Schlacht von Anghiari so kläglich gescheitert bin. Es stimmt also.« Leonardos Augen leuchteten im Schein der Fackeln wie die eines Fünfjährigen, dem an Weihnachten all seine Wünsche erfüllt werden.
    Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und kratzte ein wenig freskierten Putz von der Wand, um ein paar Brocken in seine Tasche rieseln zu lassen. Ich nahm an, dass er die Bestandteile des Mörtels, der Farben und des farblosen Wachses in seinen alchemistischen Apparaturen analysieren wollte.
    Plötzlich hielt er inne, starrte in die Dunkelheit hinter dem Fackelschein. »Sieh nur, Raffaello. Ein echter Drache!«, rief er entzückt. Leonardo reichte mir seine Fackel und kroch eilig den Gang entlang.
    Zuerst dachte ich, er hätte zwischen den Abbildungen von fantastischen Fabelwesen die gemalte Darstellung eines Drachen entdeckt. Aber Leonardo hatte einen lebendigen Drachen gefunden!
    Und er fing ihn, nachdem er ihn durch das halbe Domus Aurea verfolgt und schließlich in einem der kaiserlichen Säle in die Enge getrieben hatte. Ich hatte Mühe, Leonardo mit den beiden Fackeln und meinem Skizzenblock unter dem Arm durch die engen Gänge zu folgen.
    Als ich ihn erreichte, hielt er triumphierend den Drachen am Schwanz in die Höhe. Das Tier strampelte und gab zischende und fauchende Laute von sich. Aber der Drache spuckte kein Feuer.
    Er war eine große Smaragdeidechse.
    »Das soll ein Drache sein? Du Spinner«, lachte ich herzlich.
    Leonardo schmunzelte: »Es ist ein Drache. Glaube mir.«
    »Also gut, von mir aus: Es ist ein gefährlicher Drache«, grinste ich. »Und nun? Willst du das Untier erlegen und meine Unschuld retten, du Drachentöter?«
    Leonardo hielt die Eidechse noch immer am Schwanz in die Höhe. »Ich werde ihn mitnehmen«, kündigte er an.
    Er öffnete eine Tasche an seinem Gürtel und ließ die sich windende Echse hineingleiten. Dann verschloss er den Beutel, sodass seine Beute nicht entkommen konnte.
    Wir kehrten zurück zum Ausgang. Ich kroch mit den beiden Fackeln voran und bemerkte erst nicht, dass Leonardo hinter mir zurückblieb. Ich wartete auf ihn.
    Ein paar Minuten später kam er angeschnauft. Er war völlig außer Atem.
    »Wo bleibst du denn?«, neckte ich ihn. »Hast du mit deinem Drachen gerungen?«
    »Nein«, keuchte er und ließ sich erschöpft neben mich sinken. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. »Mit mir selbst!«
    »Was ist mit dir?«, sorgte ich mich.
    Er sah wirklich sehr blass aus. Sein Gesicht war schweißüberströmt.
    »Ein Schwächeanfall, Raffaello! Nur eine kleine Unpässlichkeit. Es wird gleich wieder vorüber sein …«, wiegelte er ab. Meinem forschenden Blick wich er aus.
    Ich nahm seine Hand. Er wollte sie mir entziehen, aber ich hielt sie fest. Seine Hand zitterte und fühlte sich trotz der Hitze in den Grotten kalt und leblos an.
    »Hast du Schmerzen?«, fragte ich beunruhigt.
    »Ja, ich habe Schmerzen. Aber ich habe noch viel mehr Angst«, gestand er

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