Der Fürst der Maler
mir flüsternd. »Es ist nicht der erste Anfall …«
Leonardo hatte Herzschmerzen! Also hatte er die Wahrheit gesagt, als ich ihn fragte, wie es ihm ging: furchtbar. Er litt unter den seelischen Belastungen, nicht mehr der beste Maler Italiens zu sein. Seine ungeregelte Lebensweise, sein dauerndes Fasten, die anstrengenden nächtlichen Ausflüge in die Leichenkammern von Florenz und Mailand, die ewige Suche, ohne das Ziel zu kennen, und die übermäßige Lust nach Leben hatten ihm am Ende die Lebenskräfte geraubt und ihn erschöpft.
Er musste sofort zu einem Medicus, der ihm eine Dosis Digitalis verabreichte.
»Ich führe dich hier heraus, Leonardo«, versprach ich ihm, während ich ihm liebevoll den kalten Schweiß mit meinem Ärmel aus dem Gesicht wischte.
Die Fackeln ließ ich auf dem Boden liegen und nahm Leonardo in meine Arme. Sein Kopf ruhte an meiner Schulter, als ich ihn vorsichtig zum Ausgang trug. Es war nicht weit, nur ein paar Schritte den mit dem Schutt der Jahrhunderte gefüllten Gang entlang, aber der Weg schien unendlich lang zu sein.
An der Strickleiter ließ ich ihn aus meinen Armen gleiten, und er hielt sich an mir fest, um nicht umzufallen.
Ich legte meinen Arm um seine Schultern, und gemeinsam stiegen wir Strick für Strick die schwankende Leiter hinauf. Er sah nicht nach unten, nur hinauf in den Abendhimmel. Dann schloss er die Augen. Als ich ihn aus der Dunkelheit in die letzten Strahlen der Abendsonne zerrte, war er bewusstlos.
So schnell wie möglich brachte ich Leonardo in meinen Palazzo und ließ meinen Medicus rufen. Doch Aisha kehrte ohne ihn aus dem Ghetto zurück. Er war am Freitagabend nicht zu Hause. Der Sabbat war bei Sonnenuntergang angebrochen.
Fluchend durchstöberte ich die Pulver und Tinkturen, die Eleonora bei ihrer Abreise zurückgelassen hatte, und fand das Fläschchen mit Digitalis. Doch – wie viel war die wirksame Medikation gegen Herzschwäche? Wie viel schwächte den Puls weiter? Und wie viel war tödlich? Ich wusste es nicht.
Ich war verzweifelt. Ich legte mein Ohr an Leonardos Brust und hörte sein Herz nur noch unregelmäßig schlagen. Sein Atem ging keuchend, als wäre er eine lange Strecke gelaufen.
Ich maß das Digitalis mit einem kleinen Silberlöffel ab und verdünnte es mit Wein. Dann gab ich Leonardo schluckweise zu trinken, bis sich sein rasendes Herz beruhigt hatte. Ich saß in einem Sessel am Bett und hielt seine Hand, bis er am nächsten Morgen erwachte.
Leonardo hatte diese Nacht überlebt.
Nach seiner Genesung kehrte er in seine Wohnung im Palazzo del Belvedere zurück, die Donato für ihn eingerichtet hatte. Dort lebte er mit seiner ›Familie‹, mit Giacomo Salai und Francesco Melzi und einer Hand voll anderer junger Männer, die sich alle stolz seine Schüler nannten. Ich fragte mich: In welcher Disziplin? Der Naturwissenschaft? Der Alchemie? Der Malerei? Oder der Lebenskunst?
Papst Leo gab ein Ölbild bei ihm in Auftrag und ließ Leonardo das Thema selbst wählen. Er begann ein paar Tage später mit einem wunderschönen, jugendlichen Giovanni Battista. Der Täufer aus der Wüste lächelte rätselhaft – er hatte wie Leonardo die Grenze des menschlichen Wissens erreicht. Sein erhobener Finger deutete auf das, was für den Menschen unerreichbar war. Als ich Leonardo fragte, was das sei, lächelte er geheimnisvoll.
Was hatte Leonardo gesehen, als er dem Tode nahe in meinem Bett lag? Sich selbst? Gott?
»Den Weg«, sagte er.
Ich erinnerte mich an mein erstes Treffen mit ihm in seiner Bottega in Santa Maria Novella. Ich hatte ihm selbstbewusst die Antwort auf die Frage gegeben, die er mir damals nicht beantworten konnte: Wohin der Weg hinter der Madonna Lisa führte – sein Weg führte ihn in seine eigene Vergangenheit. Dieselbe Frage hatte mir Leonardo drei Jahre später bei der Betrachtung meiner Katharina von Alexandria gestellt – mein Weg führte mich in eine neue Zeit.
»Den Weg habe ich gesehen«, flüsterte Leonardo verträumt, als er sich seiner Vision erinnerte, »den Weg, der weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft führt: den Weg zu mir selbst.«
»Wen die Götter lieben, den führen sie an seine Grenzen. Und darüber hinaus. Mit deiner Sixtinischen Madonna hast du dich selbst übertroffen, Raffaello«, flüsterte Felice, während sie das Bild betrachtete. »Sie ist wundervoll.«
Felice hatte mich überraschend in meinem Atelier in der Villa Santi besucht, wo ich zwei Madonnen vollendete, die ich von eigener
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