Der Fürst der Maler
setzte er sich zu mir. Er goss uns beiden die Becher voll. »Ist dir nun wieder eingefallen, was du hier willst? Ich meine: außer dich zum Frühstück zu betrinken? Willst du dich wieder auf ein Wortgefecht mit mir einlassen?«
»Der Mensch lebt, um sich auseinander zu setzen. Der Mensch kämpft. Am liebsten mit sich selbst. Oder mit denjenigen, die ihm ähnlich sind«, erklärte ich.
Michelangelo lachte höhnisch. »Du und ich, wir sind uns ähnlich? Warum streiten wir uns dann jedes Mal, wenn wir uns begegnen?«
»Gott hat uns in derselben Form gegossen. Wir sind uns zu ähnlich, um uns nicht aneinander zu messen. Wir haben dasselbe Temperament, denselben Willen, dieselbe Getriebenheit, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Aber wir haben eine völlig unterschiedliche Auffassung von Schönheit. Darüber kann man endlos streiten.«
»Mit Leonardo streitest du nicht …«, wandte Michelangelo ein.
War er eifersüchtig?
»Schönheit ist für Leonardo ein unergründbares Mysterium«, resümierte ich. »Für mich ist Schönheit das wahre Glück, die Offenbarung. Für dich ist sie Qual. Du weißt in deinem Innersten, dass die Schönheit die schöpferische Antriebskraft ist, aber gleichzeitig lebst du die Liebe nicht. Du schämst dich ihrer. Du erschaffst schöne Männer in Marmor statt dich ihnen hinzugeben. Und du stößt dich an mir, weil ich Ecken und Kanten habe, die dir wehtun. Ich werde dir etwas verraten, Michelangelo: Ich lasse mich von dir nicht formen wie Marmor!«
Wie sollte ich mich täuschen! Kein Mensch hat so auf mich eingeschlagen wie Michelangelo. Er hat meine Eigenheiten abgeschmirgelt und geglättet, er hat das Überflüssige an mir weggeschlagen, um den Menschen darunter zum Vorschein zu bringen. Er hat mich erschaffen wie seinen David. Um am Ende auszurufen: › Ecce homo! Seht, er ist nur ein Mensch! Und ich, Michelangelo, habe ihn erschaffen. Er ist kein Gott, und er ist nicht unsterblich. Ich habe ihn erschaffen, und ich kann ihn wieder vernichten!‹
»Und ich lasse mich von dir nicht in Farbe ersäufen«, konterte Michelangelo. »Du bist ein mittelmäßiger Maler, Raffaello. Aber als Mensch bist du ein funkelnder Diamant. Du ziehst die anderen an. Sie liegen dir zu Füßen. Du veränderst sie durch deine bloße Anwesenheit. Mich jedenfalls hast du verändert …« Ein undefinierbares Lächeln huschte über seine Lippen. Dann war es verschwunden wie die vergoldeten Wolken am Abendhimmel nach Sonnenuntergang. Aber es war immer noch da. Unsichtbar – wie die Wolken.
»Ich war ein Narr«, gestand ich und trank den Becher leer. »Ich habe geglaubt, mich mit dir messen zu müssen. Ich konnte dir dein Anderssein nicht verzeihen, bis ich erkannte, wie ähnlich wir uns sind. Lass uns Frieden schließen, denn jetzt weiß ich, dass jeder seinen eigenen Dämon besiegen muss.«
»Hilf mir, meinen Dämon zu besiegen, Raffaello!« Michelangelo hatte meine Hand ergriffen. Welche Überwindung mussten ihn diese ersten Worte kosten! Doch dann brach es kataraktisch aus ihm hervor: »Ich bin fasziniert von dir, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich liebe dich! Ich liebe deinen begehrenswerten Körper, dein schönes Gesicht. Deine Augen, in denen sich der Eigensinn spiegelt. Deine Hände, die die Wahrheiten festhalten, die du auf Brauchbarkeit geprüft hast. Du hast mehr Facetten als ein geschliffener Diamant.« Er küsste meine Finger. »Lass dich von mir lieben, Raffaello!«
»Das ist unmöglich.«
»Aber warum? Weil ich dich geschlagen habe?«
»Ich bin verliebt«, gestand ich.
»Findest du nicht, dass Leonardo zu alt für dich ist? Er ist zweiundfünfzig, und du bist erst einundzwanzig! Eure Freundschaft kann nicht mehr sein als eine platonische Liebe …«
»Es ist nicht Leonardo! Er ist mein Maestro, nicht mein Geliebter.«
»Wer ist es? Taddeo? Hat er dich verführt?« Die Eifersucht funkelte in seinen dunklen Augen.
Ich schüttelte den Kopf: »Ich liebe Felice della Rovere.« Mit zitternder Hand goss ich mir einen vierten Becher Wein ein.
Michelangelo starrte mich an, als hätte er mich nicht verstanden. »Du bist verliebt in … in die Tochter des Papstes?«
»Ja«, sagte ich verzweifelt und stürzte den Wein hinunter.
Michelangelo zog seine Hand zurück, als hätte er sich an mir verbrannt. Der Ausdruck in seinen Augen flackerte zwischen schmerzhafter Enttäuschung und resignierter Wut hin und her. Ich fürchtete, er könnte mich erneut schlagen.
»Glaubst du, dass wir
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