Der Fürst der Maler
Freunde sein können?«, fragte ich in das glühende Schweigen hinein.
Unbeherrscht sprang er auf und ging einige Schritte durch den Raum. »Ich kann derjenige sein, der dich leidenschaftlich liebt. Derjenige, mit dem du nächtelang über Philosophie und Kunst streitest. Derjenige, mit dem du dir auf offener Straße Wortgefechte lieferst. Aber dein Freund? Niemals!
Ich liebe dich!«, brüllte er. »Und ich hasse dich dafür!«
Viel zu müde, um in den Palazzo Taddei zurückzukehren, verließ ich Michelangelos Wohnung und flüchtete mich in die Stille des Medici-Gartens an der Piazza San Marco. Ich war zu erregt, um den antiken Skulpturen und Reliefs mehr als nur einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Was ich suchte, war nicht die künstlerische Inspiration, sondern die Ruhe.
Das Tor war offen, und ich betrat den verwilderten Garten. Das Gras stand kniehoch, viele der kostbaren Statuen waren umgefallen und zerbrochen. Einst war Lorenzo il Magnificos Garten eine Akademie für junge Künstler gewesen. Andrea Sansovino hatte hier die antiken Skulpturen studiert, Michelangelo zum ersten Mal Hammer und Schlageisen in die Hand genommen. Wie schön musste der Garten früher gewesen sein – vor der Plünderung durch den aufgebrachten Pöbel nach der überstürzten Flucht der Medici aus Florenz! Sic transit gloria mundi.
Neben einem umgestürzten Herakles setzte ich mich ins Gras und genoss die Stille. Die verführerischen Düfte des Marktes von San Marco und die orientalischen Gerüche der engen Gassen des jüdischen Ghettos drangen nicht bis über die hohen Mauern des Gartens. Hier duftete es nach Lorbeer und Lilien.
Ich zog die zusammengerollten Zeichnungen aus der Innentasche meiner Jacke. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich die Muskeln, die Fasern und Knochen anstarrte. Die Blutadern und die Nerven. Die Hand. Das Herz. Das Gehirn.
Und dann das Ganze. Den Menschen. Das Selbstporträt Gottes.
Wozu hatte Er den Menschen nach seinem Bild erschaffen, als lebendes Kunstwerk, als perfekt funktionierende Mechanik mit Verstand und freiem Willen? Damit der Mensch Gott als seinen Schöpfer anbetet? Und damit sich selbst als Kopie Gottes?
Und warum hatte ich in dieser Nacht einen Menschen seziert? War es – wie Fra Bartolomeo sagte – die Anbetung von Gottes Werk? Oder suchte ich wie Leonardo zwischen den Knochen und Muskeln nach dem, was den Menschen ausmacht: den göttlichen Funken der Liebe?
Ich schloss die Augen.
Was hatte ich bei Michelangelo gewollt? Außer mich in ihm zu spiegeln? Wie sehr musste ihn meine Anwesenheit in Florenz beunruhigen! Er hatte mich geschlagen, um mir dann seine Liebe zu gestehen. Er hatte Recht: Wir konnten niemals nur Freunde sein, die bei einem Glas Chianti über Bildentwürfe diskutierten. Jeder von uns würde versuchen, den anderen zu übertreffen. Der Kampf der Arcangeli mit Pinsel und Farbe, mit Hammer und Meißel, war unvermeidlich. Es konnte keinen Frieden zwischen uns geben. Und es würde keinen Sieger geben, denn ein Sieg wäre das Ende unseres Ringens.
Als ich erwachte, dämmerte es bereits. Von der entfernten Stadtmauer wehte der Wind leise das Trommelsignal herüber, dass die Tore für die Nacht geschlossen wurden. Ich erhob mich, rollte die Skizzen zusammen und machte mich auf den Weg zu Leonardo.
Ich nahm den kürzesten Weg über die Via Larga, durch die engen und von Wäscheleinen überspannten Gassen des jüdischen Ghettos, über den Mercato Vecchio. Während die Glocken des Domes mit denen von San Lorenzo im Duett die Stunde der Vesper einläuteten, bauten die Händler auf dem Markt ihre Stände für die Nacht ab. Die meisten Karren waren schon beladen mit Gemüse und Obst, Oliven und Nüssen und Wein in Fässern.
Einem Vogelhändler kaufte ich für ein paar Soldi seine Tauben ab. Zu seiner Verwunderung öffnete ich die Käfige, nahm die Vögel vorsichtig heraus und ließ sie fliegen. Sehnsüchtig sah ich den Tauben nach, wie sie wie schwerelos in den Abendhimmel hinaufflatterten. Sie waren frei! Doch auch ich wollte meine Flügel ausbreiten …
Als ich den Saal im Konvent von Santa Maria Novella betrat, beugte sich Leonardo über sein Schreibpult. Mit der spitzen Feder kritzelte er in seinem Arbeitsheft und bemerkte meine Anwesenheit zuerst gar nicht. Seine Linke flog über das Papier und hinterließ eine Gedankenspur in Spiegelschrift, die nur sehr wenige Menschen außer ihm lesen konnten. Hin und wieder hielt er inne, schloss die Augen, um konzentriert in sich
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