Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
manchen Tagen drängelten sich Schaulustige in den nun leeren Gängen, spähten durch die Gitterfenster und ergötzten sich an dem Spektakel dahinter. Jetzt waren die Luken geschlossen. Es mochte den einen oder anderen Insassen geben, der sich für einen Vampir hielt, doch ein wahrer Vampir würde diesen Ort meiden. Bedlam war von Ausdünstungen durchtränkt, und keine einzige davon war angenehm.
Grishan bezwang den Drang, vor den Geräuschen und dem Gestank davonzulaufen. Ein Kettenklirren erinnerte ihn daran, dass einige Insassen Halseisen trugen, und allein das bescherte ihm feuchte Hände. Seine Haut kribbelte. In seiner Tiergestalt hätte sich jedes Härchen aufgestellt. Nach etlichen Abzweigungen und Treppen erreichten sie einen Seitentrakt, in dem die offenen Zellentüren klaffenden Mäulern glichen und einen Blick in tintenschwarze Rechtecke erlaubten. Der Irrsinn hatte sich aus diesem Trakt zurückgezogen, auch die Luft war besser. Unvermittelt blieb Mica stehen und lauschte. Auch Grishan spitzte die Ohren. Außer entferntem Gewittergrollen war nichts zu hören.
Mit zunehmendem Misstrauen beobachtete er den Vampir. Welchen Vorteil brachte es dem Goldenen, Branwyn zur Verantwortung zu ziehen? Dieser Meuchelmörder war hier gewiss nicht zu finden. Ein knappes Handzeichen hieß ihn, zurückzubleiben, während Mica auf eine entfernte Zelle zuging. Lautlos wie ein Schatten verschwand er darin. Grishan sah sich in dem Gang um und wartete. Es war unheimlich still. Was machte Mica so lange in einer leeren Zelle? Obwohl sein Instinkt ihn zur Umkehr bewegen wollte, pirschte er auf das dunkle Rechteck zu. Direkt daneben drückte er sich an die Wand und schob den Kopf vor.
Die Zelle war klein und übersichtlich. Gegenüber stand Mica unter einem vergitterten Mauerbogen. Nachtluft strömte herein, vermengt mit Regentropfen. Ebenso reglos wie Mica verharrte ein anderer Vampir auf einer schmalen Pritsche. An den Schläfen war sein Haar in schmale Zöpfe geflochten. Eine Fackel oben in einer Ecke setzte rötliche Glanzlichter in die langen Flechten. Stumm sahen sich die beiden in die Augen. Was machten sie da? Branwyn, kein anderer konnte es sein, drehte abrupt den Kopf. Eisblaue Augen durchbohrten Grishan. Da er entdeckt war, trat er in die Tür.
„Wusste ich doch, dass du einen Begleiter bei dir hast“, sagte Branwyn mit sanfter, ruhiger Stimme. „Hat dein getreuer Saint-Germain ausgedient oder ist dieser Jüngling lediglich ein schmackhafter Happen, von dem du nicht lassen kannst?“
Es war einer der wenigen Anlässe, da Grishan es vorzog, den Mund zu halten. Vor allem wegen des überirdischen Glühens in Micas Augen. Sie wurden zu zwei kalten Juwelen im Gesicht einer Marmorstatue. Schmunzelnd setzte Branwyn einen Fuß auf die Pritsche und legte den Unterarm auf sein angewinkeltes Knie.
„Nun denn. Willkommen in meinem bescheidenen Unterschlupf. Es ist natürlich nur vorübergehend. Missliche Umstände führten mich hierher.“
Regen sprühte durch das Gitter und traf auf Micas Schultern. Sein anhaltendes Schweigen versetzte die feuchte Luft mit einer unguten Vibration, die Grishan frösteln ließ. Branwyn nickte ihm zu.
„Ja, Jüngelchen, es ist beeindruckend. Der Goldene versteht es, Atmosphäre zu schaffen. Einst glaubte auch ich, dass sich hinter dieser Schweigsamkeit ein tieferer Sinn verbirgt. Ein Irrtum. Es ist blanke Illusion.“
Branwyn log. Die Strömungen in der Zelle waren keine Illusion. Neben den Worten des Vampirs fand eine wortlose Verständigung statt. Grishan konnte sie spüren, wenn auch nicht verstehen.
„Du bist unhöflich, Mica. Soll dein junger Freund im Unklaren bleiben? Weißt du, Jüngelchen, wir waren einmal Freunde. Der Goldene und ich. Jetzt hält er mich für einen Verräter, wühlt in meinem Kopf herum wie eine Ratte im Unrat und sucht nach Verstößen gegen seinen Kodex. Kennst du seinen Kodex?“
Einmal zu viel war er Jüngelchen genannt worden. Zorn keimte auf, eine brennende Pflanze in seinem Brustkorb, die ihre Triebe nach allen Seiten streckte. Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung und klappte ihn wieder zu. Ein fremder Wille senkte sich gleich einem schweren Tuch über ihn und erstickte jedes Widerwort. Micas Wille.
„Wenn dir so viel daran liegt, deinen Atem zu vergeuden, dann soll es so sein, Bran. Du hast meinen Kodex übertretenund eine Blutquelle getötet. Bevor ich mich mit diesem Übertritt befasse, erwarte ich Antworten. Hast du Gilian de Garou
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