Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
tatsächlich war, erfuhr Grishan, als eine Hand aus den Schatten einer Ecke schoss, seinen Kragen packte und ihn herumwirbelte. Hart prallte er gegen das Mauerwerk. Ein Gesicht mit Porzellanhaut, eingerahmt von feuchtem Goldhaar, schob sich dicht vor ihn. Es wirkte überirdisch fremd bei Nacht, sodass ihm mit dem nächsten Atemzug das Fauchen einer Großkatze entwich. Prompt wurde es von Mica erwidert. Tief war es und bedrohlich. Abermals war Grishan an seine Grenzen gestoßen, und diesmal kamen Zweifel auf, ob er mit harmlosen Prellungen davonkam. Beim Anblick der spitzen Fänge begann er zu zappeln, aber je stärker er sich wehrte, desto unnachgiebiger drückte Mica seine Kehle zu. Die geschmeidigen Bewegungen des Vampirs hatten über seine Körperkraft hinweggetäuscht. Sie war enorm.
„Weshalb schnüffelst du mir nach, Katze?“
Damit er die Frage beantworten konnte, lockerte Mica den stählernen Griff. Grishan schnappte nach Luft. Sobald sich seine Lungen füllten, schlug Aufbegehren in ihm an.
„Ich bin keine Katze!“
Als Mica einen Schritt zurückfiel, schlug sein Mantel eine vollendete Welle. Im Türkisgrün seiner Augen glomm Belustigung.
„Dann bin ich gespannt, wofür du dich hältst.“
„Ich bin ein Werwolf!“
Das leise Lachen des Vampirs löste ein unangebrachtes Wohlbehagen aus. Beinahe hätte er aufgeschnurrt, wodurch das Leugnen der Tatsachen auch vor sich selbst hinfällig geworden wäre.
„Es soll sehr seltene Tatzenwölfe geben.“
Grishan horchte auf. Tatzenwolf. War das eine Erklärung für seine Andersartigkeit? Verschmitzt zwinkerte Mica. Es gab keine Wölfe mit Tatzen. Er war gefoppt worden und darauf hereingefallen. Impulsiv stürzte Grishan vor und landete erneut an der Mauer in seinem Rücken.
„Lass das sein, Kleiner. Du bist zu jung, um dich mit mir anzulegen, und wenn du weiterhin deine Abstammung leugnest, wirst du auch künftig keinen Kampf für dich entscheiden. Du solltest stolz sein. Deine Art ist selten geworden.“
Eindeutig gehörte es zu der Eigenheit jedes Oberhauptes, Ratschläge zu erteilen. Grishan kannte darauf nur eine Antwort. Er bleckte die Zähne. Unbeeindruckt von seinem Gebiss knuffte Mica ihm in die Seite.
„Das alte Volk und die Großkatzen führten niemals erbitterte Kriege gegeneinander. Das liegt daran, dass deine Art schnell dazu überging, sich von den Menschenkindern und uns zurückzuziehen. Ob es Klugheit war oder Trägheit, ihr habt euch frühzeitig verabschiedet.“
„Weder bin ich träge noch eine Großkatze.“
Gleichmütig zuckte Mica mit den Schultern. „Vielleicht bist du auch nur ein Ozelot. Ich kann das schwer beurteilen. In jedem Fall fehlt es dir an Erfahrung. Du bleibst ein Störfaktor, den ich heute Nacht nicht gebrauchen kann.“
Es war schlimm genug, ein Ozelot genannt zu werden. Aber die Bezeichnung Störfaktor glich einem Schlag in die Magengrube. Auch das Rudel hatte ihn einen Störenfried genannt und seine bloße Gegenwart hatte alle irritiert. Die Wahrheit war einzig Gilian bekannt gewesen, und er konnte sie nicht mehr weiter tragen. Selbst Juvenal blieb ahnungslos, obwohl auch er irritiert war. Wie also war es möglich, dass Mica und Berenike sein Geheimnis so schnell durchschaut hatten? Schwer landete eine Hand auf seiner Schulter.
„Also gut, Grishan, du bist hier und ich sehe dir an, dass du mir folgen wirst. Ich gestatte es dir, solange du meinen Regeln folgst.“
Grishan hasste Regeln. „Welche sind das?“
„Du wirst zuhören, lernen und vor allem den Mund halten, gleichgültig, was geschieht.“
Damit wehte der Mantelsaum auf und Mica schritt auf den Eingang von Bedlam zu. Alles in Grishan sträubte sich dagegen, das Gebäude zu betreten. Dort lauerte verrückte Verzweiflung. Er kannte sie, obwohl er nie so verrückt gewesen war, um in Bedlam zu enden. Letztendlich obsiegte die Neugier, was Mica an diesem Ort zu finden hoffte. Er beeilte sich, ihn einzuholen.
„Glaubst du, Branwyn ist hier?“
„Du sollst den Mund halten, Grishan.“
Er presste die Lippen aufeinander und schwieg. Mit einer leichten Berührung öffnete Mica das verschlossene Portal von Bedlam. Dahinter lag eine weite Halle, von der Gänge abzweigten und breite Treppen nach oben führten. Ein permanentes Wispern schien sich in dem Gebäude festgesetzt zu haben. Ein Winseln und feuchtes Flüstern, durchbrochen von gelegentlichem Lachen und dem Summen einer Melodie. Die Sprache des Irrsinns schob sich aus den Zellen auf ihn zu. An
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