Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Vorstellungen würde eintreten. Was war eigentlich los mit ihm?
„Ich bin aufgestanden, um das Fenster zu öffnen. Es ist stickig“, sagte er, ging zum Fenster und riss es weit auf.
Regen prasselte auf das Fensterbrett, besprühte sein klammes Hemd. Es war eine dringend notwendige Abkühlung nach ihrem frivolen Vorschlag. Es wäre der Untergang jeglicher Vernunft, würde er sich auf Berenike einlassen. Allein ihre Unterhaltung war schon zu viel des Guten gewesen. Vor Kurzem war Gilian gestorben. Keine Stunde lag es zurück, dass er gegen ein Ungeheuer gekämpft hatte und beinahe ertrunken wäre. So wie Gilian ertrunken war. Könnte es einen Zusammenhang geben? Er würde darüber nachdenken, wenn er wieder einen klaren Kopf hatte.
Eine lange Zeit beschränkte er sich darauf, die regengeschwängerte Luft zu inhalieren. Etliche tiefe Atemzüge waren nötig, bis er so weit war, das Fenster zu schließen und sich wieder dem Bett zuzuwenden. All seine Disziplin hatte er aufwenden müssen, um gegen rudimentärste Bedürfnisse anzukämpfen. Unterdessen war Berenike eingeschlafen. Die Wange auf die gefalteten Hände gebettet, lag sie auf der Seite. Jetzt hätte er sich zu einem klammheimlichen Stelldichein mit einer Nymphedavonstehlen können, doch er schaffte es nicht, sich aufzuraffen.
Mehr Port war die Lösung. Mit der Karaffe in der einen und dem Glas in der anderen Hand setzte er sich auf das Bett. Platz war genug. Zwei Armlängen trennten ihn von ihr. Weder musste er ihr zu nah kommen noch ihre Gegenwart überhaupt zur Kenntnis nehmen. Nachdem er sich einige Kissen in den Rücken geschoben hatte, widmete er sich mit zielstrebiger Effizienz dem Port. Drei weitere Gläser erfüllten ihn mit der Zuversicht, das atmende, honigbraune Blütenblatt an seiner Seite ignorieren zu können. Bei allen Höllenhunden, er war zu alt für irgendeine kopflose Narretei. Sie mochte sich für ein Menschenkind halten, er wusste es besser.
„Ich bin doch nicht dämlich“, murrte er und trank.
Als seine Sinne ausreichend benebelt waren, rutschte er tiefer und lauschte auf das einschläfernde Prasseln des Regens. Beim ersten Tageslicht würden sich ihre Wege trennen. Endgültig. Er durfte nur nicht daran denken, dass er lediglich den Arm strecken musste, um sie an sich zu ziehen. Ein Kinderspiel bei einem Alphawolf von seinen hehren Prinzipien. Über diesen Gedanken schlief er ein.
Grishan kannte seine Grenzen, denn nahezu täglich prallte er dagegen. Er zählte zwanzig Sommer, doch bis vor Kurzem hatte er noch den Wuchs eines Knaben besessen. Das langsame Herausbilden seiner Muskeln schürte die Sehnsucht, sie spielen zu lassen und die Barrieren seiner Unerfahrenheit und Jugend endlich zu überwinden. Somit war das Auftauchen eines Vampirs im Hort ein willkommener Nervenkitzel, dem er sich weder entziehen konnte noch wollte. Da Juvenal auf der Jagd und die beiden Omegas mit der Lamia beschäftigt waren, hielt ihn niemand davon ab, sich dieser Lichtgestalt mit dem Haar aus gesponnenem Gold an die Fersen zu heften. Es war aufregend, Mica kreuz und quer durch London zu folgen, denn dieser kürzte manche Wege ab, indem er die Schrägen der Dächer benutzte anstatt der Straßen. Grishan, von Natur aus ein geschickter Kletterer, war in seinem Element. Er nutzte jede Deckung, absolut sicher, dass er viel zu geschickt war, um von Mica bemerkt zu werden. Dann jedoch brach ein Gewitter über London herein, und der Regen verwischte die Fährte aus Sandelholz und Limette. Dazu noch an einem Ort, von dem er sich bisher ferngehalten hatte.
Von außen hatte das Bethlem Royal Hospital große Ähnlichkeit mit dem Prachtbau eines Höflings, doch in seinem Inneren schwang der Wahnsinn das Zepter. Bedlam nannten die Londoner das Gebäude, in dem verdrehte Existenzen den Kampf gegen das Chaos in ihren Köpfen verloren hatten. Eine feine Nase roch die eingepferchten Menschenkinder und ihre kranken Geister hinter den Mauern. Für einen Moment war Grishan abgelenkt und verlor die Duftnote des Vampirs vollends. Dabei hatte er ihn soeben noch vor sich gesehen. Vielmehr seinen dunklen, bis zu den Knöcheln reichenden Mantel, dessen Saum bei jedem Schritt aufwehte. Wohin war er so plötzlich verschwunden?
Am Mauerwerk haftete eine winzige Spur der Vampirfährte, als wäre Mica am Stein entlanggestreift. Grishan machte kehrt und hielt sich dicht an der Mauer. Der Duft wurde stärker. Ihm konnte niemand entwischen. Mica war nicht weit. Wie nah er
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