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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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sein mochte, konnte sein Äußeres nach Belieben ändern, und seine Absichten schienen offensichtlich: Es brachte Roland ins Innere des versunkenen Schiffes. Während Roland sich fragte, wie lange er wohl die Luft anhalten könnte, bevor er aufgeben und Wasser einatmen würde, bemerkte er, daß alles Licht um ihn herum verschwunden war. Er befand sich im Inneren der Orpheus , und um ihn herum herrschte vollkommene Finsternis.
    Max schluckte, setzte sich die Taucherbrille auf und schickte sich an, ins Wasser zu springen, um Roland zu suchen. Er wußte, daß das Vorhaben, seinen Freund zu retten, unsinnig war. Ganz davon abgesehen, daß er selbst kaum tauchen konnte, wollte er sich nicht einmal vorstellen, was passieren würde, wenn er unter Wasser wäre und diese seltsame Wassergestalt, die Roland gefangenhielt hinter ihm her käme. Aber er konnte unmöglich ruhig im Boot sitzen bleiben und seinen Freund ertrinken lassen. Während er die Schwimmflossen anzog, spielte sein Verstand tausend vernünftige und plausible Erklärungen durch für das, was eben passiert war. Roland hatte einen Wadenkrampf erlitten; eine Temperaturveränderung im Wasser hatte einen Schlaganfall bei ihm ausgelöst... Jede beliebige Theorie war besser, als anzunehmen, daß das, was Roland vor Max' Augen in die Tiefe gerissen hatte, etwas Wirkliches war.
    Bevor er sich ins Wasser stürzte, tauschte er einen letzten Blick mit Alicia. Das Gesicht seiner Schwester war gezeichnet von dem Widerstreit ihrer Gefühle: Sie wünschte sich sehnlichst, daß Roland gerettet würde, doch zugleich war sie in panischer Angst, ihr Bruder könnte das gleiche Schicksal erleiden wie er. Ehe allzu langes Nachdenken sie beide davon abbringen konnte, sprang Max und tauchte in das kristallklare Wasser der Bucht. Zu seinen Füßen erstreckte sich der Rumpf der Orpheus bis dorthin, wo die Sicht trübe wurde. Max schwamm bis zum Bug des Schiffes, an die Stelle, wo er Rolands Silhouette hatte verschwinden sehen. Durch die Ritzen des versunkenen Schiffsrumpfes glaubte Max flimmernde Lichter zu sehen. Diese Helligkeit kam auch aus dem klaffenden Spalt hervor, der vor fünfundzwanzig Jahren durch die Felsen in die Bilge gerissen worden war Max schwamm auf diese Öffnung zu. Es schien, als ob jemand das Feuer von Hunderten von Kerzen im Inneren der Orpheus angezündet hätte.
    Als er sich senkrecht über dem Eingang zum Schiff befand, stieg er zur Wasseroberfläche hoch, um Luft zu holen. Dann tauchte er erneut unter. Die zehn Meter bis zu dem Wrack hinunterzutauchen erwies sich als viel schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Auf halbem Weg spürte er einen schmerzhaften Druck in den Ohren, der ihn befürchten ließ, daß seine Trommelfelle unter Wasser platzen würden. Als er die kalte Strömung erreichte, strafften sich seine Muskeln wie Stahlseile, und er mußte energisch die Schwimmflossen schlagen, um zu verhindern, daß ihn die Meeresströmung mit sich riß wie der Wind ein verwelktes Laubblatt. Endlich unten angelangt, klammerte sich Max mit aller Kraft am Rand des Wracks fest und kämpfte, seine Nerven zu beruhigen. Die Lungen brannten ihm, er war kurz davor, in Panik auszubrechen. Er schaute zur Wasseroberfläche hinauf und sah den winzigen Rumpf des Bootes, unendlich weit weg. Wenn er jetzt nicht handelte, war es völlig unnütz gewesen, bis hierher hinabzutauchen.
    Der Lichtschein schien aus dem Inneren der Schiffsräume zu kommen. Max folgte diesem Licht, das den gespenstischen Anblick des versunkenen Schiffes offenbarte und es wie eine schaurige Unterwasserkatakombe aussehen ließ. Er durchschwamm einen Laufgang, in dem Fetzen aus fadenscheinigem Segeltuch hin und her wogten, als seien sie Quallen. Am Ende des Ganges erkannte Max eine halb geöffnete Tür, hinter der sich die Quelle dieses Lichts zu verbergen schien. Er ignorierte die widerwärtigen Berührungen des modrigen Segeltuchs auf seiner Haut, packte den Türgriff und zog daran, mit aller Kraft, die er auftreiben konnte.
    Die Tür führte zu einem der Hauptladeräume des Schiffes. In seiner Mitte kämpfte Roland, aus der Umarmung des Wassergeschöpfes freizukommen, das jetzt die Gestalt des Clowns aus dem Skulpturengarten angenommen hatte. Das Licht, das Max gesehen hatte, strahlte aus dessen grausamen und unverhältnismäßig großen Augen. Als Max in das Innere des Laderaums eindrang, hob das Geschöpf den Kopf und sah ihn an. Max wollte fliehen, aber der Anblick seines gefangenen Freundes zwang

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