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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Alicia.
»Dann kannst du diesmal wenigstens etwas sehen«, sagte er scherzend zu ihr.
»Wer hat denn gesagt, daß ich daran denke, hier oben im Boot zu bleiben? Heute tauche ich«, erwiderte Alicia.
»Du? Du kannst doch gar nicht tauchen!« rief Max, um seine Schwester wütend zu machen. Doch Alicia lachte nur.
»Wenn du das Tauchen nennst, was du neulich gemacht hast, dann hast du recht, das kann ich wirklich nicht!« sagte sie, doch ihr Tonfall klang versöhnlich.
Roland ruderte weiter, ohne sich in den Wortwechsel der beiden Geschwister einzumischen. Etwa vierzig Meter vom Ufer entfernt hielt er das Boot an. Unter ihnen warf der Schiffsrumpf der Orpheus einen dunklen Schatten auf den Meeresgrund. Er sah aus wie der eines großen, im Sand lauernden Haifisches.
Roland öffnete einen der Körbe und zog einen rostigen Anker hervor, der an ein dickes, verschlissenes Tau gebunden war. Offenbar stammte all dieser Seemannsplunder aus dem Posten, den Roland zusammen mit dem Boot erhandelt hatte.
»Achtung, gleich spritzt es!« rief Roland und warf den Anker ins Meer. Der sank senkrecht nach unten und wirbelte eine kleine Wolke aus Luftblasen auf. Er riß fast fünfzehn Meter Seil mit sich. Roland ließ es zu, daß der Wirbel das Boot ein wenig ins Schlingern brachte, und schnürte das Ankertau an einem kleinen Ring fest, der vom Bug herabhing. Das Boot schaukelte sanft in der Brise, und das Tau spannte sich und brachte die Holzbretter des Bootes zum Knarzen. Max warf einen mißtrauischen Blick auf die Fugen des Schiffsrumpfes.
»Es wird nicht untergehen. Max. Vertrau mir«, versicherte Roland, während er das Unterwasserfenster aus dem Korb zog und es auf das Wasser setzte.
»Genau das hat auch der Kapitän der Titanic gesagt, bevor sie in See stachen«, erwiderte Max.
Alicia beugte sich nach vorn, um durch den Kasten zu schauen, und sah zum ersten Mal den Rumpf der Orpheus , wie sie dort auf dem Grund lag, »Das ist unglaublich!« rief sie.
Roland lächelte zufrieden und reichte ihr eine Taucherbrille und Schwimmflossen.
»Dann warte erst mal, bis du es aus der Nähe siehst«, sagte Roland, während er ihr die Ausrüstung anlegte.
Alicia sprang als erste ins Wasser. Roland, der auf dem Rand des Bootes saß, warf Max einen beruhigenden Blick zu.
»Keine Sorge, ich werde gut auf sie aufpassen. Es wird ihr nichts geschehen«, versicherte ein Roland sprang ins Meer und schwamm zu Alicia, die ungefähr drei Meter vom Boot entfernt wartete. Beide winkten Max zu und verschwanden wenige Sekunden später unter der Wasseroberfläche.
Unter Wasser ergriff Roland Alicias Hand und führte sie langsam genau über die Überreste der Orpheus . Die Wassertemperatur war leicht gefallen, seit Roland mit Max hier getaucht war, und die Abkühlung war um so deutlicher zu spüren, je tiefer man kam. Roland war an dieses Phänomen gewöhnt, das manchmal während der ersten Sommertage auftrat, besonders dann, wenn sich starke kalte Strömungen, die von seewärts kamen, auf sechs oder sieben Meter Tiefe unter Wasser bewegten. Angesichts dieser Situation beschloß Roland unwillkürlich, daß weder Alicia noch Max an diesem Tag mit ihm bis zum Schiffsrumpf der Orpheus hinuntertauchen durften. Es würde noch genügend Tage während des restlichen Sommers geben, dies zu tun.
Alicia und Roland schwammen an dem versunkenen Schiff entlang. Sie hielten von Zeit zu Zeit inne, um zum Luftholen aufzutauchen oder um das Schiff, das im gespenstischen Zwielicht am Meeresboden lag, ruhig zu betrachten. Roland spürte Alicias Erregung bei diesem Anblick und verlor sie nicht aus den Augen. Er wußte, daß man, wenn man nach Lust und Laune und in Ruhe tauchen wollte, es alleine tun mußte. Wenn er mit jemand anderem tauchte, insbesondere mit Anfängern auf dem Gebiet, wie seine neuen Freunde es waren, mußte er zwangsläufig die Rolle des Kindermädchens unter Wasser annehmen. Trotzdem gefiel es ihm sehr, diese magische Welt, die jahrelang nur ihm allein gehört hatte, mit Alicia und ihrem Bruder zu teilen. Er fühlte sich wie der Fremdenführer in einem verzauberten Museum, der Besucher auf einem unglaublichen Spaziergang durch eine versunkene Kathedrale begleitet.
Das Unterwasserpanorama bot jedoch auch noch andere Reize. Er schaute gerne dabei zu, wie Alicias Körper sich unter Wasser bewegte. Bei jeder Armbewegung konnte er sehen, wie die Muskeln ihres Oberkörpers und ihrer Beine sich strafften. Ihre Haut nahm hier unter Wasser eine bläuliche Blässe an. Es

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