Der Fürst des Nebels
Früh am Morgen lag das Dorf in einer Ruhe, die ihn an die Sonntagmorgenatmosphäre in der Stadt erinnerte. Die wenigen Fußgänger auf den Straßen bewegten sich schweigend und wie benommen, und sogar die Häuser wirkten mit ihren geschlossenen Fensterläden so, als ob sie noch schliefen.
In der Ferne, jenseits der Hafeneinfahrt, nahmen ein paar Fischerboote, die die örtliche Fangflotte bildeten, Kurs seewärts. Sie würden nicht vor der Abenddämmerung zurückkehren. Der Bäcker und seine Tochter, ein rundliches junges Mädchen mit rosafarbenen Wangen, das dreimal so dick war wie Alicia, begrüßten Max, und während sie ihm ein Backblech voller köstlicher, frisch gebackener Kuchen hinhielten, fragten sie, wie es Irina gehe. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell hier im Ort, und allem Anschein nach beschränkte sich der Dorfarzt bei seinen Hausbesuchen nicht aufs Fiebermessen.
Max gelang es, zum Haus am Strand zurückzukehren, solange die dampfenden Gebäckstücke des Frühstücks noch unwiderstehlich warm waren. Ohne seine Taschenuhr wußte er nicht genau, wie spät es war, doch er schätzte, daß es kurz vor acht Uhr sein mußte. Er hatte keine Lust, mit dem Frühstück zu warten, bis Alicia von alleine aufwachte, daher mußte er sich etwas einfallen lassen. Er häufte all die Köstlichkeiten aus der Bäckerei auf ein Tablett, stellte zwei Gläser Milch dazu, legte Servietten daneben und ging hinauf zu Alicias Zimmer. Er klopfte an der Tür, bis die verschlafene Stimme seiner Schwester mit einem unverständlichen Murmeln antwortete.
»Zimmerdienst«, sagte Max, »kann ich hereinkommen?«
Er drückte die Tür auf und betrat das Zimmer. Alicia hatte den Kopf unter einem Kissen begraben. Max warf einen flüchtigen Blick auf das Zimmer, auf die über den Stühlen hängenden Kleider und die Sammlung von Alicias persönlichen Gegenständen. Dies war das Zimmer einer Frau, und das faszinierte ihn.
»Ich zähle jetzt bis fünf«, sagte Max, »und dann fange ich an, das Frühstück aufzuessen. Das Gebäck ist noch warm!«
Das Gesicht seiner Schwester kam unter dem Kissen zum Vorschein, sie roch den Duft der Butter in der Luft.
Roland erwartete sie am Strand. Er trug eine alte Hose, an der er beide Beine abgeschnitten hatte und die ihm eine Badehose ersetzte. Neben ihm lag ein kleines Holzboot, das wohl nicht ganz drei Meter lang war. Das Boot schien jahrzehntelang unter der Sonne an einem Strand festgelegen zu haben, und das Holz hatte einen gräulichen Ton angenommen, den die wenigen Flecken blauer Farbe, die sich noch nicht abgelöst hatten, kaum überdecken konnten. Trotz alledem schien Roland sein Boot zu bewundern, als wäre es eine Luxusyacht. Als die beiden Geschwister geschickt über die Steine des Strandes in Richtung Meeresufer balancierten, entdeckte Max, daß Roland auf den Bug den Namen des Bootes geschrieben hatte. Orpheus II stand da, mit frischer Farbe. Vermutlich hatte Roland den Schriftzug erst an diesem Morgen aufgemalt.
»Seit wann hast du ein Boot?« fragte Alicia und zeigte auf den verkümmerten kleinen Kahn, in den Roland bereits die Taucherausrüstung und zwei Körbe mit geheimnisvollem Inhalt eingeladen hatte.
»Seit drei Stunden. Einer der Fischer aus dem Dorf war gerade dabei, das Boot abzuwracken, um Brennholz daraus zu machen, aber ich habe ihn überredet, und da hat er es mir gegen eine kleine Gefälligkeit geschenkt«, erklärte Roland.
»Eine Gefälligkeit'?« fragte Max. »Ich glaube eher, daß du es warst, der ihm einen Gefallen getan hat.«
»Du kannst ja an Land bleiben, wenn es dir nicht gefällt«, erwiderte Roland in einem scherzhaften Ton. »Los, alle Mann an Bord.«
Der Ausdruck »an Bord« wirkte ein wenig unpassend für diese An »Schiff«, aber nachdem sie ein Stück weit gefahren waren, stellte Max fest, daß es immerhin nicht sofort kenterte, wie er erwartet hätte. Tatsächlich fuhr das Boot beharrlich nach dem Kommando jedes Ruderschlags, den Roland energisch ins Wasser setzte, »Ich habe eine kleine Erfindung mitgenommen, die euch überraschen wird«, sagte Roland. Max schaute auf einen der zugedeckten Körbe und hob die Decke einige Zentimeter hoch.
»Was ist das?« murmelte er.
»Ein Unterwasserfenster«, erläuterte Roland, »Eigentlich ist es ein Kasten mit einem Fensterglas unten dran. Wenn du ihn auf die Wasseroberfläche legst, kannst du auf den Grund sehen, ohne selbst hinunterzutauchen. Es ist wie ein Fenster.«
Max deutete auf seine Schwester
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