Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
würden.
Vor diesem Hintergrund sah ich Erica schließlich wieder. Sechs Wochen waren seit jenem Nachmittag im Central Park vergangen, und als ich sie anrief, dachte ich, sie hätte vielleicht schon etwas vor, doch Erica meinte, wir sollten uns noch am selben Abend treffen, also noch am Abend meines ersten ganzen Tages in New York, sobald ich mit der Arbeit fertig sei. Ich wartete auf dem Gehsteig, als sie aus dem Taxi stieg. Ein eigentümlicher Geruch hing in der Luft; die schwelenden Trümmer von Downtown drangen bis in unsere Lungen. Sie hatte bleiche Lippen, als hätte sie nicht geschlafen oder als hätte sie vielleicht geweint. In diesem Augenblick fand ich, dass sie älter aussah, eleganter; sie hatte etwas von jener Schönheit, die nur das Alter einer Frau verleihen kann, und es kam mir vor, als erhaschte ich einen Blick auf die Erica, die sie eines Tages werden würde. Wahrhaftig, dachte ich, in ihr schlummert eine Kaiserin!
»Meine Mom hat gemeint«, sagte sie beim Essen, »ob wir nicht eine Weile aus der Stadt raussollten. Raus in die Hamptons. Aber ich habe ihr gesagt, das wäre das Letzte, was ich wollte. Ich wollte nicht allein sein. Die Anschläge haben alte Gedanken in mir aufgewühlt.« Ich nickte, erwiderte aber nichts darauf. Mir war, als begegneten wir uns auf einer Beerdigung; man weiß nie, was man zu den Hinterbliebenen sagen soll. »Ich muss ständig an Chris denken«, fuhr sie fort. »Warum, weiß ich nicht. In den meisten Nächten muss ich etwas nehmen, damit ich schlafen kann. Es ist fast so, als hätte es mich um ein Jahr zurückgeworfen.« Vermutlich machte ich ein bestürztes Gesicht, denn sie lächelte und setzte hinzu: » So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich esse ja auch gut. Ich bin nicht durchgeknallt. Aber ich fühle mich verfolgt, weißt du?«
Ich dachte über ihre Wortwahl nach. »Ich habe eine Tante«, sagte ich, »die schönste Schwester meiner Mutter. Ihre Heirat war arrangiert gewesen, daher hatte sie ihren Mann davor nur wenige Male gesehen. Er war Pilot bei der Luftwaffe. Ein Vierteljahr später starb er, aber sie hat nie wieder geheiratet. Sie sagte, er sei ihre große Liebe gewesen.« Erica schien von dem, was ich gesagt hatte, bewegt – berührt und verstört zugleich; sie beugte sich vor und fragte: »Wie ist sie jetzt?« »Verrückt«, sagte ich. »Völlig durchgeknallt.« Erica machte große Augen, dann lachte sie los, ein verblüfftes, frohes Gelächter, und als sie sich wieder beruhigt hatte, legte sie die Hand auf meine.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie. »Gut, dass du wieder da bist.«
Am liebsten hätte ich meine Finger mit ihren verschränkt, dennoch hielt ich meine Hand völlig ruhig, als fürchtete ich, jede Bewegung meinerseits könnte unsere Verbindung lösen. »Ist sie wirklich verrückt?«, fragte Erica, hob eine Augenbraue und machte meine Aussprache des Wortes nach. »Ja, leider«, sagte ich mit gespieltem Ernst. »Komplett.« Darauf lächelte sie; sie schlug vor, noch eine Flasche Wein zu bestellen. Wir blieben sitzen, bis das Restaurant schloss – da waren wir schon angenehm betrunken –, und schlenderten dann auf die Straße. »Ich mag es, wenn du davon erzählst, wo du herkommst«, sagte sie und hakte sich bei mir unter, »du wirst dann so lebendig .«
Ich sagte nicht, dass dasselbe auf sie zutraf, wenn sie von Chris sprach; ich sagte es nicht, weil es in mir gemischte Gefühle auslöste. Einerseits freute es mich als ihr Freund, dass sie so lebhaft war, und ich wusste ja auch, dass es ein Zeichen von Zuneigung war, dass sie mich so ins Vertrauen zog – ich hatte sie nie über Chris sprechen hören, wenn sie sich mit anderen unterhielt –, andererseits hätte ich gern eine Beziehung mit ihr begonnen, die auf mehr als nur Freundschaft fußte, und in der Stärke ihrer anhaltenden Bindung zu Chris spürte ich einen Rivalen – auch wenn er tot war –, mit dem ich wahrscheinlich niemals würde mithalten können. Die Tante, die ich erwähnt hatte, war in nahezu jeder Hinsicht anders als Erica: Sie war füllig, wollte immer nur mit dem Motorroller fahren, trug einen Rucksack, der häufig mit Mitbringseln für ihre jungen Nichten und Neffen vollgestopft war, und lebte von einer kleinen Witwenrente. Das aber war meine Tante mit fünfundvierzig; die Frau, die einem im Alter von zweiundzwanzig Jahren keck aus Fotos entgegenblickte, war selbstsicher und quälend attraktiv. Ich konnte nur ahnen, wie viele Verehrer sie abgewiesen hatte, und
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