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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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mich zu wissen. Vielleicht ziehen Sie gewisse Schlüsse aus meinem Äußeren, meinem schimmernden Bart; vielleicht sind Sie dem Bogen meiner Geschichte lediglich mit dem unheimlichen Geschick eines Skeetschützen gefolgt, vielleicht haben Sie auch ... Aber genug mit diesen Spekulationen! Jetzt sollten wir erst einmal einen Blick auf die Speisekarte werfen; ich habe zu viel geredet, und ich fürchte, ich habe meine Gastgeberpflichten vernachlässigt. Außerdem möchte ich doch auch mehr von Ihnen hören: was Sie nach Lahore führt, bei welcher Firma Sie arbeiten und so weiter und so fort. Die Nacht senkt sich immer tiefer um uns herum, und trotz der Lichter über dem Markt liegt Ihr Gesicht weitgehend im Schatten. Da unsere Augen von immer geringerem Nutzen sind, wollen wir es den Fledermäusen nachtun und uns unserer anderen Sinne bedienen. Ihre Ohren sind wahrscheinlich erschöpft und es wird Zeit, dass Sie Ihre Zunge gebrauchen – zum Schmecken, wenn schon zu nichts anderem, obwohl ich hoffe, dass ich Sie zum Sprechen bewegen kann!

6
    Sie zögern, Sir; ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Wenn Sie noch nicht bereit sind, den Zweck Ihrer Reise hierher zu enthüllen – und Ihr Benehmen schließt die Möglichkeit, dass Sie als Tourist ziellos durch diesen Teil der Welt streifen, praktisch aus –, will ich nicht darauf bestehen. Ah, offenbar haben Sie einen Geruch wahrgenommen. Ihnen entgeht nichts; Ihre Sinne sind so scharf wie die eines Fuchses in freier Wildbahn. Recht angenehm, nicht wahr? Ja, Sie haben recht: Es ist Jasmin. Er kommt, wie Sie, Ihrem Blick nach zu urteilen, schon vermuten, vom Nachbartisch, wo die Familie sich gerade zum Essen niedergelassen hat.
    Welch ein Kontrast: die Blässe dieser Blüten, die mit Nadel und Faden zu einem lockeren Armband gefügt sind, auf der dunklen Haut der Dame! Und welch ein Kontrast auch das: die Zartheit ihres Dufts gegen den deftigen Geruch des bratenden Fleischs! Es ist wahrhaft bemerkenswert, dass wir Menschen fähig sind, uns am Lockruf einer Blume zu erfreuen, während wir noch von den verkohlten Kadavern unserer Mitgeschöpfe umgeben sind – aber wir sind ja auch bemerkenswerte Wesen. Vielleicht liegt es in unserer Natur, unbewusst das Bindeglied zwischen Sterblichkeit und Fortpflanzung zu erkennen, zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen sozusagen, und tatsächlich werden wir von den Mahnungen des Einen angetrieben, das Andere zu suchen.
    Ich weiß noch, wie ich beim Tod meiner Großmutter mütterlicherseits den Auftrag erhielt, solche Blumen zu kaufen. Ich war damals sechzehn und in Besitz eines gefälschten Anfängerführerscheins für Motorfahrzeuge – er gehörte meinem Bruder –, und ich fand es so aufregend, am Steuer eines Automobils zu sitzen, dass meine Familie mir regelmäßig Dinge zu erledigen gab, die sonst vielleicht der Chauffeur gemacht hätte. Unser Toyota Corolla war liebevoll gewartet, kam aber in die Jahre und neigte daher – wie auch in jenem konkreten Fall – zum Überhitzen. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich noch an das berauschende Aroma der Stränge aufgefädelten Jasmins, die sich auf meinen Armen türmten, als ich, in der Sommersonne schwitzend, zum Friedhof ging.
    Nach der Zerstörung des World Trade Center trug New York Trauer, und in den Schreinen für die Toten und Vermissten, die während meiner Abwesenheit aufgestellt worden waren, spielten Blumenmotive eine große Rolle. Ich schaute sie mir häufig an, wenn ich daran vorbeiging: Fotos, Sträuße, Worte der Anteilnahme – an Straßenecken, zwischen Geschäften und an die Geländer öffentlicher Plätze geschmiegt. Sie erinnerten mich an meine unfreundliche, ja, unmenschliche Reaktion auf die Tragödie, und ich bildete mir ein, beständig ein vorwurfsvolles Gemurmel von ihnen zu hören.
    Andere Vorwürfe waren viel lauter. Nach den Anschlägen eroberte die Fahne Ihres Landes New York; sie war überall. Kleine, an Zahnstocher befestigte Fahnen steckten an den Schreinen, Fahnensticker schmückten Windschutzscheiben und Fenster, große Fahnen flatterten an Gebäuden. Allesamt schienen sie zu verkünden: Wir sind Amerika – nicht New York, was meiner Ansicht nach etwas völlig anderes bedeutet –, die mächtigste Zivilisation, die die Welt jemals gesehen hat; ihr habt uns gekränkt; hütet euch vor unserem Zorn. Wenn ich zu den aufragenden Türmen der Stadt hinaufblickte, fragte ich mich, was für Heere aus einer so großmächtigen Burg hervorbrechen

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