Der Funke des Chronos
seltsame Maschine. Das Leder des Sattels fühlte sich glatt an und knarrte unter seinem Gewicht. Er musste verrückt sein, diese Fluchtmöglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen. Noch einmal blickte er zu den beiden Körpern, die dort regungslos lagen – und atmete tief ein. Vor ihm auf dem Armaturenbrett befanden sich Zeiger, Ziffernblätter und ein mechanisches Zählwerk. Auch dieser Teil der Maschine wirkte eigentümlich antiquiert. Schließlich fand er, was er suchte: ein Gewinde. Tobias ließ den Kristallstab einrasten und drehte das Silbergewinde fest. Sogleich summte die Maschine, und der eigentümliche Parabolschirm in seinem Rücken begann zu rotieren. Erst langsam, dann immer schneller. Wind kam auf, der seine Haare anhob. Blonde Strähnen kitzelten ihn im Gesicht. Von irgendwoher war ein Glucksen zu hören, so als rausche Flüssigkeit durch die mechanischen Eingeweide der Maschine. Tobias verfolgte mit staunendem Blick, wie sich die feinen Kanülen im Innern des Kristallstabs mit einer schwarzen Flüssigkeit füllten, die schnell zum Elfenbeingriff aufstieg. Von einem Moment zum anderen tanzten Funken auf dem Gestänge der großen Apparatur, und der Wind um ihn herum wuchs sich zu einem Sturm aus, der die leichteren Gegenstände auf den Werkbänken gegen die Kellerwände drückte.
Plötzlich spürte Tobias einen schmerzhaften Stich im Oberschenkel. Was war das? Ihm schwindelte. Gegen seinen Willen musste er kichern. Fast glaubte er, sich vogelgleich in die Lüfte erheben zu können.
Er schreckte erst wieder hoch, als er das laute Knattern ringsum vernahm. Elmsfeuer! An den spitzen Kanten der Maschine entluden sich elektrische Flammen. Himmel, sollte diese Höllenmaschine wirklich funktionieren?
Vorn im Verkaufsraum war Hundegebell zu hören. Tobias atmete tief ein und wollte Hand an den Hebel legen, als sich dieser plötzlich wie von selbst bewegte. Richtig, hatte der Uhrmacher nicht gesagt, alles sei vorbereitet? Verschwiegen hatte er ihm nur, wohin die Reise gehen würde. In welches … Jahr? Er wusste noch nicht einmal, wohin es ihn verschlagen würde. Nackte Angst breitete sich in ihm aus. Nein, er hatte es sich überlegt. Er wollte das nicht. Lieber würde er sich stellen. Er musste verrückt gewesen sein, sich auf diese unheimliche Apparatur zu setzen. Verzweifelt stemmte er sich gegen den Hebel. Vergeblich. Ein lauter Knall war das letzte, was Tobias noch hörte, dann versank die Welt um ihn herum in grellen Farben.
Tempus fugit
Hamburg 1842, 1. Mai,
um die zehnte Stunde des Abends
T obias hatte das Gefühl zu fallen. Endlos. Vorbei an erloschenen Sternen, die sich zu gewaltigen Glutbällen aufblähten, immer tiefer hinein in die lichtlose Schwärze des Alls. Die Welt drehte sich um ihn, langsam zunächst, dann immer schneller und schneller, bis die winzigen Streifen, die die Sterne um ihn zogen, erloschen, so dass er in einem schwarzen Tunnel zu stecken schien, an dessen weit entferntem Ende allerdings ein Licht zu erkennen war. Darauf raste er zu. Und wieder brachte ein lauter Knall seine Ohren zum Klingen. Dem Lärmen folgte beängstigende Stille.
Tobias keuchte und riss die Augen auf. Um ihn herum war es dunkel. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Über sich sah er einen Nachthimmel, auf dem die Sterne wie Diamanten auf dunklem Samt glitzerten. Neben der hellen Scheibe des Mondes war das Sternbild des Großen Wagens deutlich zu erkennen.
Wo war er? Linkerhand, nur zwei Schritte von ihm entfernt, erkannte er die düstere Außenfassade eines schiefen Fachwerkhauses. Rechts … Die seltsame Maschine schwankte. Tobias schreckte zurück. Die Zeitmaschine ragte mit den Kufen halb über eine niedrige Kaimauer, die mit dunklen Holzbohlen befestigt war. Schräg unter ihm glitzerten die trägen Fluten eines Kanals, und von irgendwoher war das Läuten einer Kirchturmuhr zu hören. Noch immer summte die Maschine.
Unglaublich! Ganz langsam öffnete sich Tobias der Erkenntnis, dass die Zeitreise offenbar geglückt war. Irgendwie. Das Herz hämmerte ihm vor Aufregung. Wo auch immer er gelandet war, er befand sich jedenfalls nicht mehr im Kellergewölbe des Uhrmachers. Vielmehr war um ihn herum die düstere, vom Mondlicht beschienene Silhouette einer Stadt zu erkennen. Häuser, Giebel und Kirchtürme – wohin er auch blickte. Etwa zehn Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite des Fleets, war die Rückseite eines großen
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