Der Gärtner von Otschakow
betrunkenen Nächten?
Einer der Männer hatte schon ein Bier geöffnet und füllte die Gläser. Die Bewegungen seiner Hände waren geübt und exakt, auf seinem Gesicht lag erstarrter Eifer.
»Ich nicht«, sagte Stepan knapp und hob den Kopf.
»Was, bist du krank?«
»Schlimmer.«
»Na, Saufen lässt sich nicht erzwingen!« Der Dienstreisende winkte ab und wandte sich an Igor. »Und du?«
»Für mich ein kleines bisschen«, sagte Igor. »Wir müssen morgen früh arbeiten…«
»Und wir gehen tanzen, oder was!« Der Mann lachte. »Wir fahren auch nicht gerade in Urlaub. Zwei Tage Untersee-Schweißen, dann ein Fläschchen pro Kopf zum Aufwärmen, und zurück!«
Das »Untersee-Schweißen« imponierte Igor.
Der Dienstreisende reichte Igor die Hand. »Wanja«, stellte er sich vor. »Und das ist Schenja.« Er wies mit dem Blick auf seinen Kollegen.
»Ich geh raus, eine rauchen.« Stepan erhob sich und verließ das Abteil.
Der Zug fuhr an. Schenja goss sich und seinem Kollegen Wodka ins Bier. Mit dem Blick bot er Igor denselben Cocktail an, aber Igor lehnte ab.
[33] Kurz sah der Schaffner ins Abteil herein und sammelte die Fahrkarten ein. Die Dienstreisenden begrüßte er wie alte Bekannte.
»Nur singt heute Nacht keine Lieder«, bat er sie beim Hinausgehen freundschaftlich.
Als er sein Bierglas geleert hatte, beschloss Igor, Stepan suchen zu gehen.
Der stand auf der Plattform am Ende des Waggons.
»Hätten Sie doch aus Höflichkeit einen Tropfen getrunken«, sagte Igor zu ihm.
»Wenn ich trinke, dann macht der ganze Waggon kein Auge mehr zu.« Stepan lächelte. »Und zum Frohsein reicht mir auch Tee!«
»Und wenn wir dort, in Otschakow, Ihre Verwandten finden? Ziehen Sie dann um, zu ihnen? Oder bleiben Sie bei uns?«, fragte Igor und wurde verlegen, so plump hatte seine Frage geklungen.
»Wer weiß?!« Stepan zuckte mit den Schultern. »Wenn ich welche finde… Aber was wollen die schon mit mir? Ich bin ja ein Mensch ohne Geld und Meldeschein. Ich bitte um nichts, weder Hilfe noch Freundschaft. Habe gelernt, von meinen Händen zu leben. Ich mache ihre Bekanntschaft, und das war’s… Dann weiß ich, dass meine Tochter und ich nicht allein auf der Welt sind. Aber ich glaube nicht, dass da jemand von der Familie ist… Seine Verwandten findet man auch ohne Tätowierung. Nein, dort gibt es etwas anderes.«
Zu ihrer Verwunderung standen, als sie von der Plattform ins Abteil zurückkehrten, alle Flaschen leer auf dem Tisch, die Dienstreisenden selbst lagen schon auf den oberen Pritschen.
[34] »Da sind noch Gurken übrig, bedient euch«, sagte einer von ihnen von oben.
Auf dem Bahnhofsvorplatz von Nikolajewo wartete eine Reihe Kleinbusse. Schilder hinter den Windschutzscheiben gaben ihre Endstationen an. Und Igor entdeckte sofort bei einem von ihnen: »Otschakow – Nehrung«.
»Wann fahren Sie?«, fragte er den Fahrer.
»Wenn wir voll sind, dann fahren wir«, antwortete der und kaute geräuschvoll seine Sonnenblumenkerne.
Über ganz Otschakow schien die Sonne. Sie beleuchtete die grauen Fünfzigerjahre-Wohnblocks rings um den gesichtslosen, zweistöckigen Glaskasten des Busbahnhofs, drei Kioske und ein paar alte Frauen, die direkt auf dem Asphalt Äpfel verkauften.
Stepan hatte sich umgesehen und steuerte sofort auf diese Großmütter zu. Igor eilte ihm hinterher.
»Was kosten die ›Semirenko‹?«, fragte Stepan eine von ihnen.
»Zwei Griwni das Kilo«, antwortete sie. »Wenn Sie ein ganzes nehmen, geb ich es für anderthalb…«
»Wissen Sie vielleicht, wo wir billig für ein paar Tage ein Zimmer mieten können?«, wechselte Stepan das Thema, womit er die Alte jedoch gar nicht erstaunte.
»Wieso kommen Sie denn so spät im Jahr?« Sie breitete mitfühlend die Arme aus. »Im Meer baden bloß noch Betrunkene und Kinder…«
»Wir lieben Eisbaden«, sagte der Gärtner lächelnd. »Wir wollen nicht baden, wir wollen uns die Stadt ansehen.«
[35] »Was gibt es denn bei uns zu sehen?!«, fragte sich die alte Frau. »Doch, es gibt schon was! Wir haben eine Kirche, und ein Museum mit Bildern, im Zentrum… Es soll anscheinend interessant sein…«
»Da gehen wir hin, ins Museum gehen wir auf jeden Fall.« Stepan nickte. »Nur bräuchten wir erst ein Dach über dem Kopf!«
Die Alte musterte die beiden von Kopf bis Fuß. »Ich habe ein Zimmerchen… Aber für weniger als zehn Griwni pro Tag geb ich es nicht her. Essen ist natürlich extra…«
»Gut, feilschen wollen wir nicht«, sagte der Gärtner,
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