Der Gärtner von Otschakow
alten Zeiten kannte. Der Kleinlaster wendete auf dem Vorplatz, bog nach rechts ab und fuhr langsam weiter, fort von Igor, sich mit den Scheinwerfern den Weg leuchtend. Das Tor hatte sich wieder geschlossen. Und dann kam kein Laut mehr.
Igor sah sich um. Der Wagen war schon in der Dunkelheit verschwunden, hell war es nur noch über dem Dach des Pförtnerhäuschens und den grauen Fabrikmauern.
›Vielleicht klopfe ich und frage den Pförtner, wo ich hier bin?‹, kam es Igor in den Sinn.
Es blieb ihm keine Zeit, auf den Gedanken zu reagieren, denn da öffnete sich eine Torhälfte ein wenig. Igor hörte angespanntes Flüstern, dann schaute ein Kopf aus dem Tor heraus und lauschte einen Moment.
»Na los, geh schon!«, drang eine lautere Männerstimme zu Igor, der wieder ins Dunkel zurückgetreten war.
Ein junger Bursche mit einem merkwürdigen, schweren Sack über der Schulter kam heraus, sah sich um, winkte dem Wächter nochmals zu und tat ein paar ungeschickte Schritte, worauf er stehenblieb und den Sack zurechtschob. Das Tor hatte sich hinter ihm wieder geschlossen. Eisen klirrte, der Wächter legte offenbar einen gewichtigen Riegel vor.
Igor trat aus dem Dunkel und ging mit forschem Schritt [71] auf den Burschen zu, um ihn nach dem Weg zum Busbahnhof zu fragen.
Der Bursche erblickte den munter hermarschierenden Milizionär, ließ den Sack sinken und rührte sich nicht mehr. Der Sack fiel fast geräuschlos nieder, bewegte sich aber auf der Erde wie lebendig.
»Ich habe… zum ersten Mal…«, stammelte der Bursche erschrocken. »Nehmen Sie mich nicht… Bitte! Wenn meine Mutter es erfährt, das bringt sie um, sie hat ein schwaches Herz… Mein Vater war an der Front, kam als Krüppel zurück… Ist vor einem Jahr gestorben…«
»Was ist los?«, fragte Igor erstaunt. «Was hast du?«
Die unverständliche Angst des Jungen machte Igor sofort gleichsam zum Herrn der Lage.
»Wein«, seufzte der Bursche und senkte den Blick auf den Sack.
»Sag mir: Ist es weit zum Busbahnhof?«
Der Bursche schwieg, sah dem jetzt direkt vor ihm stehenden Menschen in der Milizuniform misstrauisch ins Gesicht und verstand nicht ganz, was der fragte.
»Na… vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß…«, sagte er ein wenig selbstsicherer.
»Und was ist das?« Igor stieß mit der Stiefelspitze gegen den Sack, der leicht nachgab und im nächsten Augenblick seine seltsame Form wieder annahm.
»Ich habe doch gesagt, es ist Wein… zum ersten Mal. Rkaziteli… Einen einzigen Schlauch habe ich in all der Zeit genommen… Verhaften Sie mich nicht…«
Auf einmal begriff Igor den Grund für die Angst des Jungen und lächelte.
[72] Der Bursche bemerkte dieses Lächeln und straffte sich. «Ich bringe ihn sofort zurück!«, erklärte er und sah dabei den Sack an.
»Warte, reden wir ein bisschen!« Igor versuchte den Tonfall des Weindiebs nachzuahmen, der sprach ein wenig seltsam, nicht wie einer aus Irpen. »Woher kommst du?«
»Von hier, aus Otschakow… Meine Mutter verkauft auf dem Markt, ich arbeite in der Kellerei…«
»Von hier? Aus Otschakow?«, wiederholte Igor betreten. »Irgendwie gefällt mir das nicht…«
»Was?«, fragte der Bursche vorsichtig.
»Alles.« Igor sah sich um. »Dunkel ist es bei euch… Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig… Samochin heiße ich, Iwan, mit Vatersname Wassiljewitsch.«
»Und wann bist du geboren, Iwan Wassiljewitsch Samochin?« Igor sprach langsamer, sprach jedes Wort deutlich aus, und da kam es ihm so vor, als redete er selbst schon anders, mit anderem Tonfall.
»Im Jahr 36… am siebten Mai… Es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte am Tag des Sieges Geburtstag…«
Igor wurde nachdenklich. 36 plus 21 Jahre, das fügte sich alles zum Jahr 1957. Unsinn! Igor hob den Blick zu dem Dieb. Dann sah er wieder auf den Schlauch mit dem Wein.
»Trinkst du so viel?«, fragte er.
»Nein, wo denken Sie hin! Ich habe früher auch Sport getrieben, bin für unseren Bezirk gelaufen… Das ist für den Markt, zum Verkaufen!«, sagte der Bursche und unterbrach sich sofort, schlug sich mit der Faust an die Stirn, bereute, dass er sich so restlos verraten hatte.
[73] »So, so.« Igor nickte.
»Wie viel bekomme ich denn jetzt?« Der Bursche war zum Flüstern übergegangen. »Zehn Jahre Gefängnis? Oder mehr?«
»Sag, was ist heute für ein Tag?«, fragte Igor, ohne dem Dieb zu antworten.
»Der dritte Oktober.«
»Also, gehen wir«, sagte Igor versonnen und wies mit dem Finger auf den Weinschlauch.
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