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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Medikamente lagen.
    Igor stand auf und trat ans Fenster. Er sah sich um. Sein Blick fiel auf die sorgsam gefaltete Milizuniform, auf der die alte Uniformmütze lag.
    »Es war ein Traum! So ein Unsinn! Oder etwa doch…?«, fragte Igor sich, als ihm das in der vorigen Nacht Erlebte oder Geträumte einfiel.
    [80] Er seufzte, zog seinen Trainingsanzug aus der Kommode, schlüpfte hinein und rief Koljan an.
    »Oh, hallo!« Das gestrige Geburtstagskind wurde lebhaft, als es Igors Stimme hörte. »Wie geht’s, wie steht’s?«
    »Hör zu.« Igor sprach langsamer, überlegte jedes Wort, um nicht irgendeinen Unsinn vom Stapel zu lassen. »Ich… gestern… war ich doch bei dir?«
    »Na, du bist gut!« Koljan lachte laut. »Du bist ja schön versackt, wenn du nichts mehr weißt! Du warst bei mir! Und wie! Kamst in einer alten Uniform, schon sturzbetrunken, und hast dich mit den Türstehern angelegt. Nachher konnten wir dich kaum von ihnen loseisen, die wollten dich rauswerfen, und es hat aus Kübeln geschüttet!«
    »Mhm… Was haben wir denn bei dir getrunken?«
    »Alles. Du persönlich hast dich vor allem an Kognak gehalten. Anderthalb oder zwei Flaschen gekippt, bevor wir dich in einen Wagen gesetzt haben, damit er dich nach Hause bringt! Zweihundert Griwni haben wir dem Mann in die Hand gedrückt, du warst ja schon jenseits! Also, gib sie uns bei Gelegenheit zurück!«
    »Mhm«, wiederholte Igor langsam und hörte wegen des Dröhnens in seinem Kopf die eigene Stimme nicht. »Und was war sonst noch los…?«
    »Im ›Petrowitsch‹? Ha! Du erinnerst dich wohl an nichts!«
    »Nein«, gestand Igor. »Und der Kopf platzt mir…«
    »Was los war? Wir haben getrunken, gelacht, zu alter Musik getanzt…«
    Plötzlich spürte Igor auf der Zunge die Säure billigen trockenen Weißweins.
    »Habe ich auch Wein getrunken?«
    [81] »Wein? Wein hast du probiert, richtig! Hast den französischen Chablis einen sauren Fusel genannt und gleich mit Fünfsterne-›Ararat‹-Kognak nachgespült.«
    »Gut, ich rufe später wieder an«, seufzte Igor erschöpft.
    »Kurier dich aus, Bruder!«, hörte er Koljans muntere Stimme zum Abschied.
    Gegen Mittag hatte sein Kopf sich beruhigt, und die Gedanken sammelten sich endlich zu einer Art Ordnung. In allen Einzelheiten erzählte Igor sich selbst nochmals den gestrigen Traum oder Wahn. Dabei hörte er sich aufmerksam zu und versuchte, in der Geschichte die kleinsten Beweise für ihre Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu entdecken. Gern hätte er, zur Beruhigung der aufgeregten Seele, festgestellt, dass alles die Frucht seiner betrunkenen und daher wilden Einbildung war. Aber so sehr er auch lauschte, so sehr er sich in seine Erinnerungsbilder vertiefte, alles kam ihm ungeheuer real und wahrscheinlich vor. Sowohl die Uhr, die plötzlich lostickte und die »Moskauer Mitternacht« anzeigte, als auch Wanja Samochin, und die Otschakower Kellerei, und das Wasserglas mit dem trockenen Weißen, gefüllt bis zum Rand. Und – das war das Wichtigste – dass Wanja Fima Tschagin erwähnt hatte, als möglichen Anlass dafür, dass ein aus der Haupstadt abkommandierter Milizionär in Otschakow erschien. Das Einzige, was man auf die andere Schale der Waage legen konnte, mit der Igor versuchte, seinen klaren Verstand auszutarieren, das waren die paar Gläser Kognak, die er gestern Abend noch vor Koljans Anruf geleert hatte. Ja, und überhaupt! Diese ganze Feierei im Club ›Petrowitsch‹ in Podol! Igor erinnerte sich an rein nichts von dem Geburtstagsfest. Mehr noch, er wusste nicht [82] einmal mehr, wo dieser Club gewesen war und wo dieses Retro-Party-Plakat!
    Plötzlich griff Igor in die Tasche der Milizhose und zog die goldene Uhr heraus. Er hob sie ans Ohr – Stille. Er klappte sie auf, die Zeiger waren auf halb zwei erstarrt.
    »Ja«, sagte er mit einem verlorenen Seufzer.
    Erschöpft von all den unbeantworteten Fragen, trank Igor einen Kaffee und ging hinaus, hinters Haus. Der Schuppen war nach wie vor verschlossen. An der Tür hing das Vorhängeschloss. Stepan war also nicht da.
    Vom düsteren Himmel tröpfelte es. Dicke Tropfen. Igor warf einen Blick nach oben und eilte gleich wieder ins Haus – die schwarze Wolke, die über Irpen hing, war kurz davor, in den nächsten Platzregen auszubrechen.
    Kaum war er drinnen, trommelte auf dem Schieferdach das Unwetter los.

10
    Der Wolkenbruch, der um Mittag begonnen hatte, zog sich mehrere Stunden hin und stellte, als er plötzlich aufhörte, die Bewohner von Irpen

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