Der Gärtner von Otschakow
lange nichts mehr kaufen konnte? Praktisch nichts. Natürlich war er noch in diesem Land geboren worden, zur Zeit des letzten sowjetischen Fünfjahrplans, wie seine Mutter gern sagte.
›Was hat der Fünfjahrplan damit zu tun, und überhaupt, was ist das?‹ Igor verzog den Mund. Die Schule hatte einen Zehnjahrplan gehabt, das ja! Aber ›Fünfjahrplan‹?
Er zuckte die Achseln und warf das einstige Geld zurück in den Koffer.
»Gehst du heute einkaufen?«, ertönte die Stimme seiner Mutter aus dem Wohnzimmer.
[62] »Ja, ich wollte gerade losgehen!« Sorgfältig legte Igor die Milizuniform in den Koffer, obenauf den Ausweis von I.I. Sotow, verschloss den Koffer und schob ihn unters Bett.
Vor dem Fenster tröpfelte ein leichter Regen los. Igor ging unterm Regenschirm. In seinem Kopf drehte sich, unklar, warum, das Lied über die Fünf Minuten aus dem alten Neujahrsfilm. Ihm war seltsam nostalgisch zumute. ›Was soll denn das jetzt?‹, dachte Igor und blieb am ersten Kiosk stehen, der ihm begegnete.
Er kaufte ein Päckchen Zigaretten und steckte sich eine an. Und da erschien neben ihm ein Bursche ohne Regenschirm, mit nassem, an der Stirn klebendem Haar, in Parka und hohen Soldatenstiefeln.
»Chef, geben Sie mir eine!«
Igor hielt ihm das offene Päckchen hin und betrachtete den Jungen ironisch. »Halte wenigstens die Hand drüber, sonst löscht sie der Regen!«, sagte er.
»Ich rauch sie hier, unter dem Dach«, antwortete der Junge ruhig, zündete sich bei Igor seine Zigarette an und blieb wirklich unter dem kleinen Vordach des Kiosks stehen, links vom Verkaufsfenster.
»Wo hast du denn die Stiefel gekauft?«, fragte Igor scherzhaft. »Zur Zeit macht man solche nicht mehr!«
»Ich hab sie im Schuppen bei meinem Alten gefunden, sind von der Armee!«, antwortete der Junge völlig ernsthaft, ohne auf die Ironie in Igors Stimme zu achten.
»Dann trag sie und freu dich dran! Früher verstand man noch Stiefel zu machen! Nicht wie jetzt!« Und er sah hinunter auf seine rumänischen Stiefel, die er schon zwei Mal dem Schuster zur Reparatur gebracht hatte.
[63] »Sie sind ein bisschen groß«, klagte der Bursche. »Mein Alter hatte Größe dreiundvierzig, ich bloß einundvierzigeinhalb… Gibst du mir vielleicht noch eine?«
Igor zog die Zigarette selbst aus dem Päckchen und streckte sie dem Jungen hin, dann nahm er, ohne sich zu verabschieden, seinen Weg wieder auf. Er ging bis zum Busbahnhof und sah sich rings um – von hier bot sich doch eine ernstzunehmendere Auswahl an Straßen und Richtungen. Er trat vor ein Anzeigenbrett, überflog die angeklebten handgeschriebenen und gedruckten Zeilen. Die Welt drehte sich um »verkaufen« und »kaufen«.
›Vielleicht kann ich zur Miliz gehen? Die Milizpistole habe ich schon!‹, spottete Igor über sich selbst. Auch an die Uniform dachte er wieder.
Er seufzte, versank in Nachdenken. Auf die Zigarette hin war ihm nach einem Kaffee. Die Zigarette war echt gewesen, doch echten Kaffee gab es hier nirgends, nur löslichen. Aber was soll’s, er betrat ein Geschäft, nahm einen ›Drei-in-Eins‹ und trank ihn – statt hinaus in den Regen zu gehen – direkt an der Theke, unter deren Glas verschiedene Sorten Würste und gebackenes Huhn lagen. Da fiel Igor die Bitte seiner Mutter ein, er sollte ja einkaufen. Er prüfte den Inhalt seiner Taschen – es gab keinen Grund, sich über Armut zu beklagen. Er kaufte ein frisches Weißbrot, ein halbes Kilo Kochwurst, Butter, Sprotten, dann heftete er im schönsten Kaufrausch den Blick auf die junge Verkäuferin und sagte fest und bestimmt: »Plus eine Flasche ›Koktebel‹! Nein, nicht die. Fünf Sterne!«
Als er mit seiner schweren Tasche wieder draußen im Regen stand, lachte Igor über sich, über diese Pose des reichen [64] Lebemanns, in der er sich so gefallen hatte, als er den Kognak kaufte.
Seine Stimmung hatte sich gehoben. Auf dem Heimweg dachte er über eine neue Erkenntnis nach: Er hatte auf einmal entdeckt, dass er Kognak öfter trank oder trinken wollte, wenn Regenwetter war.
Das Mittagessen rückte näher, und im Magen meldete sich eine leise Hungermelodie.
Die Mutter wies ein Gläschen Kognak auch nicht zurück. Sie aßen zu zweit in der Küche, saßen sich am regennassen Fenster gegenüber. Allerdings schenkte Igor sich schon das dritte Gläschen ein, während Elena Andrejewna noch am ersten nippte.
»Komisch, dass Stepan nicht da ist.«
»Er ist ein erwachsener Mensch.« Die Mutter zuckte die Achseln.
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