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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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nichts‹, dachte er, ›dafür wird es im Petrowitsch lustig.‹ Das Wichtigste war, dort nicht hängenzubleiben und es zur letzten Bahn zu schaffen. Auf einen Kleinbus brauchte man nachts nicht zu zählen!
    Für kurze Zeit schien die Dunkelheit Igor einzuhüllen, es herrschte undurchdringliche Finsternis, als hätte sich etwas in seinen Augen verdüstert. Und in diesem nachtschwarzen Augenblick fiel Igor ein, dass sein Onkel an gepanschtem Kognak gestorben war. Erst war er blind geworden, hatte geschrien: »Ich sehe nichts!«, dann war er verstummt, hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und war gestorben. Das hatte Igor erzählt bekommen, er selbst war natürlich damals, zu Hause bei dem Onkel, nicht dabeigewesen. Aber seither schnuppperte er immer lange an jeder frisch geöffneten Flasche Kognak.
    [68] Die Füße spürten festen Boden, immer noch, wie es schien, denselben Gehweg. Deshalb blieb Igor nicht stehen, obwohl er ein wenig erschrocken war. Er ging weiter, und plötzlich gab die Dunkelheit ihn frei, und vor sich sah er ein paar Lichter. Er blickte zurück und versuchte zu begreifen, ob mit seinen Augen etwas nicht stimmte oder die Straßenbeleuchtung erloschen war. Das kam ja oft vor. Man saß abends zu Hause, guckte fern, und plötzlich – zack! Vollständige Finsternis. Manchmal fünf Minuten lang, manchmal ein paar Stunden.
    Hinter ihm war alles dunkel und nichts zu sehen, nur vor ihm gab es die Lichter. ›Der Strom ist ausgefallen!‹, sagte Igor sich, nickte und ging weiter.
    Plötzlich freute er sich, als seine Gedanken in die Stiefel schweiften: Es lief sich so leicht in ihnen! Als hätte ein Schuster sie für seine Füße maßgefertigt! Dabei waren sie doch etwa anderthalb Nummern zu groß gewesen! Aus der Freude wurde auf einmal Misstrauen. Er blieb stehen und sah auf seine Stiefel, konnte sie aber kaum erkennen. Verwundert beschleunigte er die Schritte, um schneller die Lichter zu erreichen.
    ›Der Busbahnhof hätte doch auch schon kommen müssen, und der ist hell erleuchtet! Und davor gibt es Kioske, und die Bierbude!‹ Igor sah starr geradeaus, die Unruhe in ihm wuchs: Die seltsamen Lichter entsprachen nicht dem, was man hier zu sehen erwartete.
    Von diesen Überlegungen und einem merkwürdigen körperlichen Unbehagen war ihm heiß geworden. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er zog die Jacke aus und warf sie nervös über die Schulter, einen Finger in den Aufhänger gehakt.
    [69] »He, Leutnantchen! Wohin so eilig?«, hörte er in der Nähe eine weibliche Stimme. »Sagst du uns die Uhrzeit?«
    Igor erstarrte und sah sich um. Es war stockfinster.
    »Nein«, sagte er argwöhnisch und fixierte weiter die Dunkelheit. »Eine Uhr habe ich, aber die ist kaputt. Sie ist stehengeblieben.«
    »Dein Glück.« In der weiblichen Stimme schwang der Hauch einer Drohung.
    »Manja, du Närrin! Siehst du denn nicht, der ist kein Soldat. Miliz!«, flüsterte eine Männerstimme. «Wir verschwinden! Schnell!«
    Und Igor hörte eilige, sich entfernende Schritte. Er bekam es mit der Angst zu tun und rannte los, so schnell er konnte, auf die Lichter zu. Endlich kamen sie näher. Vor einem gut beleuchteten Tor, hinter dem graue Fabrikgebäude aufragten, machte er halt. Rechts am Tor hing ein Schild.
    »Otschakower Kellerei«, las er und sah sich um.
    Etwas regte sich in seiner linken Tasche, und er erschrak. Er griff hinein, und da pochte in seiner Hand das Uhrwerk – das Herz der goldenen Uhr hatte begonnen zu schlagen. Erstaunt zog Igor die Uhr heraus, hob sie ans Ohr und hörte das laute Ticken.
    ›Was für Teufelsspuk‹, dachte er. ›Die Uhr geht wieder… Und woher kommt hier plötzlich die Otschakower Kellerei, sowas gibt es nicht bei uns in Irpen… Oder vielleicht haben sie eine Filiale aufgemacht… Es sind doch bewegte Zeiten, jeden Tag bauen sie was Neues, reißen Altes ab…‹
    Hinter dem Zaun erklang plötzlich eine bekannte Melodie, worauf eine Männerstimme verkündete: »In Moskau ist es Mitternacht. Wir senden die Signale der exakten Zeit…«
    [70] Igor schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen. Er klappte den runden, goldenen Deckel mit der Gravur auf, der das Zifferblatt schützte. Beide Zeiger wiesen einträchtig nach oben zu der schwungvollen Zwölf.
    In diesem Augenblick polterte etwas, hinter dem Tor ertönten Schritte. Igor eilte schnell zur Seite und sah aus dem Tor einen Kastenwagen herausrollen – ein altes Modell, wie er sie nur aus dem Fernsehen, aus Filmen über die

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