Der Gamma-Stoff
perlgrauen Nebligkeit und hielt sie für einen Traum. Er war allein. Seine Brust brannte. Er drückte mit der Hand dagegen. Als er sie wegzog, war sie dunkel verfärbt.
Das zweite Erwachen brachte die Wirklichkeit. Er befand sich in einem Keller. Er stützte sich auf einen Ellbogen, fand die Kraft dazu in einem verborgenen Winkel. Er lag auf einem Feldbett. Barbara kniete neben ihm. Auf dem Bettrand saß ein fremder Mann im weißen Kittel. Er hatte eine Injektionsspritze in der Hand.
»Weg!« rief Sibert heiser. »Es hat keinen Sinn –«
Barbara schob ihn sanft zurück.
»Das ist ein Arzt, Eddy. Ich habe einen Arzt.«
Er ließ sich zurücksinken, fühlte sich kräftiger, blieb wachsam. Vielleicht war der Mann wirklich ein Arzt, vielleicht auch etwas anderes. Jeder war verdächtig.
Er ließ die Hand an seinem Körper entlanggleiten, aber die Tasche war leer. Die Pistole war weg.
Die Spritze kehrte in ihren Behälter zurück, und das Futteral verschwand in der schwarzen Tasche. Das bedeutete also, daß die Injektion schon gegeben war, dachte Sibert.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte der Arzt mürrisch. »Ich habe die Schußlöcher in seiner Schulter behandelt, aber gegen die Löcher in der Lunge läßt sich nichts tun; das könnte nur die Zeit heilen und die richtige Pflege. Ich glaube, daß es schon zu spät ist. Der Mann stirbt. Ich wundere mich, daß er nicht schon im Koma ist.«
»Würde eine Transfusion etwas nützen?« fragte Barbara.
»In diesem Stadium möchte ich das bezweifeln. Es hat keinen Sinn, Wasser in ein Sieb zu gießen. Außerdem habe ich kein Blut bei mir. Wenn Sie erlauben, daß ich ihn in ein Krankenhaus bringe –«
»Nehmen Sie mein Blut.«
»Unmöglich! Ich kann keine Blutgruppenuntersuchung durchführen, ganz zu schweigen von den unhygienischen Verhältnissen hier.«
»Ich habe gesagt, nehmen Sie mein Blut«, sagte Barbara hart.
Sibert sah sie an. Sie hatte eine Waffe in der Hand – seine Pistole. Sie war ohne das geringste Zittern auf den Arzt gerichtet. Barbaras Knöchel spannten sich weiß um den Kolben.
Der Arzt runzelte unsicher die Stirn. »Was haben Sie für eine Blutgruppe?« fragte er Sibert.
»0 negativ«, sagte Sibert. Seine Stimme schien von weit her zu kommen.
»Und Sie?«
»Was spielt das für eine Rolle? Wenn Sie es nicht versuchen, muß er auch sterben.«
Das war roh, dachte Sibert. Er hatte nicht gewußt, daß Barbara so hart sein konnte.
Stumm holte der Arzt einen kleinen würfelförmigen Kasten aus der Tasche. Ein Fraktionierungsgerät, dachte Sibert. Der Arzt befestigte einen mit Kanülen versehenen Schlauch an dem Kästchen.
»Das ganze Blut«, sagte Barbara, »nicht nur das Plasma!«
Die Umgebung begann zu verschwimmen. Sibert fühlte sich wieder schwach, alt und verbraucht. Er bemühte sich, bei Bewußtsein zu bleiben.
Barbara sank neben dem Feldbett auf die Knie, die Waffe fest in der rechten Hand. Der Keller war dunkel und schmutzig, angefüllt mit Abfall.
Sibert fühlte undeutlich, wie der Arzt seinen Arm betupfte, dann, wie die Nadel eindrang. Aber als das Blut zu fließen begann, fühlte er sich kräftiger. Es war, als gieße man ihm verflüssigtes Leben ein.
»Das ist ein halber Liter«, sagte der Arzt.
»Gut. Hören Sie auf.«
»Ich muß das melden, verstehen Sie? Das ist eine Schußverletzung.«
»Das macht nichts. Inzwischen sind wir längst fort.«
»Wenn Sie den Mann noch einmal transportieren, stirbt er am Schock.«
Die Stimmen wurden leiser. Er begann wieder einzuschlafen, erkannte Sibert entsetzt. Er kämpfte gegen die mächtige schwarze Flut, aber es war hoffnungslos.
Kurz bevor er versank, sah er, wie der Arzt den Kopf wandte, um die Sachen in die Tasche zu tun. Eine Hand zuckte an Siberts Augen vorbei. Sie hielt etwas Metallisches. Es klang seltsam hohl, als es auf dem Kopf des Arztes aufschlug.
»Aufwachen, Eddy! Du mußt aufwachen!«
Wieder berührte die Kühle sein Gesicht, beruhigte sein Fieber. Er bewegte sich.
Er zwang seine Lider dazu, sich zu öffnen. Barbaras Gesicht schwebte über dem seinen, mit weiten, besorgten Augen.
Sie wischte ihm wieder mit einem feuchten Lappen über das Gesicht.
»Versuche es!« drängte sie. »Wir können nicht mehr lange hierbleiben.«
Ich werde sterben, dachte er. Das hat der Arzt gesagt. Dann fiel ihm Locke ein, dann wußte er wieder, wofür er kämpfte.
Er versuchte sich aufzuraffen. Nachdem er sich ein paar Sekunden lang verzweifelt abgemüht hatte, sank er
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