Der Gamma-Stoff
zusammen. Es war tragisch, weil sie schön war – er empfand sie jetzt als schön – so voll friedlicher Schönheit. Sie zur Anzeige zu bringen würde ihm Schmerz verursachen.
Er fragte sich, wie ihr seine Hand in der ihren vorgekommen sein mochte: heiß, nervös, feucht? Welchen Eindruck hatte sie von ihm bekommen?
Er blieb an der Haustür stehen.
»Es tut mir leid, daß ich Ihrem Großvater nicht helfen konnte.«
»Er ist mein Vater. Ich bin geboren worden, als er hundert Jahre alt war. Damals war er noch kein alter Mann. Alle hielten ihn für fünfzig. Erst in den letzten Monaten ist er alt geworden. Ich glaube, daß wir uns aufgeben, wenn wir sehr müde werden.«
»Wie leben Sie denn – wenn er krank ist und –«
»Und ich blind? Die Menschen sind großzügig.«
»Warum?«
»Sie sind wohl dankbar. Für die Zeiten, in denen wir ihnen helfen. Ich sammle alte Rezepte von Großmüttern und braue die Mittel zusammen; ich fungiere als Hebamme, wenn man mich braucht; ich sitze bei den Kranken, helfe, wo es geht, und begrabe diejenigen, bei denen jede Hilfe zu spät kommt. Sie können auch das melden, wenn Sie wollen.«
»Ich verstehe«, sagte Flowers, wandte sich ab und zögerte. »Ihr Vater – ich habe ihn schon irgendwo gesehen. Wie heißt er?«
»Er hat seinen Namen vor über fünfzig Jahren verloren. Hier in der Stadt nennen ihn die Leute den Heilenden.« Sie reichte ihm die Hand. Flowers nahm sie widerstrebend. Das war das Ende. Die Hand war warm. Seine Hand erinnerte sich an diese Wärme. Sie war gut zu halten, wenn man sich krank fühlte.
»Leben Sie wohl«, sagte sie ernsthaft. »Ich mag Sie. Sie sind menschlich. Das kommt selten vor. Aber kommen Sie nicht wieder. Das wäre für uns alle nicht gut.«
Flowers räusperte sich laut. »Ich habe doch schon gesagt, daß ich nicht mehr komme«, erklärte er; sogar in seinen Ohren klang das trotzig und kindisch. »Leben Sie wohl.«
Sie blieb in der Tür stehen, als er sich umdrehte, die Tasche in die rechte Hand nahm und die Stufen hinunterstieg. Die Tasche fühlte sich schwer an. Das Zentrum hatte sie ihm auf längere Zeit geliehen. An der Außenseite waren zwei Worte mit goldenen Buchstaben angebracht: ›Benj. Flowers‹. Eines Tages würden dort noch zwei Worte stehen: ›Dr. med.‹
Noch ein paar Monate, dann würde er sie sich verdient haben. Er konnte die Tasche kaufen, eine Anzahlung auf die Bibliothek leisten und die staatliche Prüfung bestehen. Er würde vom Staat eine Lizenz erhalten, an den Bürgern Medizin zu praktizieren. Dann erst würde er ein richtiger Arzt sein.
Zum erstenmal in seinem Leben freute er sich nicht darauf.
Vor dem Vorderrad der Ambulanz lag ein Mann. Neben ihm, auf dem Gehsteig, ein Brecheisen. Flowers rollte ihn auf den Rücken. Die Augen des Mannes waren geschlossen, aber er atmete normal. Er war zu nahe herangekommen und von den Ultraschallwellen ausgeknockt worden. Eigentlich mußte Flowers auch jetzt die Polizei verständigen, aber er fühlte sich zu erschöpft. Er zerrte den Körper zur Seite und öffnete die Tür des Krankenwagens. Er wurde sich bewußt, daß sich hinter ihm etwas regte.
»Vorsicht!« schrie Leah. Ihre erschreckte Stimme kam aus weiter Ferne. Flowers wollte sich umdrehen, aber es war zu spät. Die Nacht fiel herab und hüllte ihn ein.
3.
Er öffnete seine Augen in die Dunkelheit, und der Gedanke kam wie von selbst: So ist es, wenn man blind ist. Das muß Leah immer ertragen.
Sein Schädel pochte. Am Hinterkopf hatte er eine große Beule. Das Haar war mit getrocknetem Blut verklebt. Er zuckte zusammen, als er mit den Fingern die Wunde untersuchte, aber sie war nicht gefährlich. Eine Gehirnerschütterung hatte er nicht erlitten.
Er fühlte sich nicht blind. Wahrscheinlich fehlte nur das Licht. Er hatte eine ungewisse Erinnerung an eine wilde Fahrt durch die Straßen der Stadt; an eine schwere Tür, die klirrend hochklappte, an den Eintritt in einen höhlenartigen, muffig riechenden, hallenden Ort; er mußte eine Treppe hinaufgetragen worden sein.
Jemand hatte etwas gesagt. »Er kommt zu sich. Soll ich ihm noch mal eins draufgeben?«
»Nein. Leg ihn nur hin, bis wir ihn wieder brauchen. Er kann nicht weg.« Peng! Wieder die Dunkelheit.
Unter sich spürte er Beton, kalt und hart. Er stand schwankend auf; alles tat ihm weh, nicht nur der Kopf. Er tat vorsichtig einen Schritt vorwärts, einen Arm ausgestreckt, den anderen schützend vors Gesicht gelegt.
Nach dem fünften Schritt
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