Der Gamma-Stoff
in die Tasche, um die beruhigenden Umrisse der Nadelpistole zu ertasten. Im schwarzen Rechteck der Tür schimmerte ein blasses Gesicht.
»Leah?« sagte es. Es war die Stimme eines Mädchens. »Ich hab’ mir schon gedacht, daß du es bist. Gib mir deine Hand. Laß sie mich für eine Weile halten. Ich habe gedacht, daß ich die Nacht nicht überstehen werde.«
»Na, na«, sagte Leah. Sie streckte eine Hand nach dem Gesicht aus. »Es wird schon alles gut werden. Du mußt nur fest daran glauben.«
Flowers knipste die Lampe in seiner Tasche an. Das Licht traf das Mädchen in der Tür wie ein Schlag; es wich stöhnend zurück, legte den Arm über die Augen.
Flowers knipste das Licht aus – er hatte genug gesehen. Das Mädchen in seinem dünnen, geflickten Nachthemd war ein Bündel Knochen, eng verpackt in blasse Haut. Abgesehen von zwei fiebrigroten Flecken auf den Wangen war das Gesicht leichenblaß.
Das Mädchen ging an Tuberkulose zugrunde.
Tuberkulose. Heutzutage! Warum tun sie das?
»Geh hinauf und bleib bei Phil«, sagte Leah. »Er braucht dich. Er hat einen Schlaganfall erlitten, aber es geht ihm schon besser.«
»Gut, Leah«, sagte das Mädchen. Die Stimme klang kräftiger, zuversichtlicher. Es glitt an ihnen vorbei und stieg die Treppe hinauf.
»Was ist los mit ihnen?« fragte Flowers gepreßt. »Tuberkulose ist kein Problem. Wir können sie leicht heilen. Warum lassen Sie zu, daß sie sterben?«
Sie blieb vor den Holzbrettern stehen und wandte ihm das Gesicht zu.
»Weil es billiger ist. Mehr können sie sich nicht leisten.«
»Billiger, zu sterben?« rief Flowers ungläubig. »Soll das etwa wirtschaftlich sein?«
»Die einzige Art von Wirtschaftlichkeit, die sie kennen. Die einzige Art, die zu praktizieren die Krankenhäuser ihnen erlauben. Ihr habt die Gesundheit zu teuer werden lassen. Ein paar Monate Bettruhe«, sagte sie müde, »hundert Gramm Streptomycin, tausend Gramm PAS, vielleicht Pneumothorax und Rippenresektion. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch nie mehr als fünfzig Dollar gesehen. Selbst wenn sie hundert Jahre alt wird, könnte sie nicht die Hälfte dessen ersparen, was sie für die Behandlung braucht. Sie muß Kinder ernähren. Sie kann nicht einen einzigen Tag mit der Arbeit aussetzen, geschweige denn monatelang –«
»Es gibt Klinikverträge –«, sagte Flowers ungeduldig.
»Aber nicht für eine Behandlung, wie sie sie braucht«, sagte Leah. Eine Tür hinter ihr öffnete sich. »Gute Nacht, Arzt.«
Dann war sie verschwunden.
An der Tür drehte er sich impulsiv um, und die Worte drängten sich auf seine Lippen.
»Wenn nicht für alle genug da ist, wen wollt ihr behandeln – die Bedürftigen oder die Wohlhabenden, die Faulen oder die Sparer, die Fässer ohne Boden oder diejenigen, die die Zukunft finanzieren können, mehr Medizin, mehr Gesundheit für jeden.«
Aber die Worte erstarben auf seinen Lippen. Er konnte durch einen Spalt in den Brettern in den Raum dahinter sehen; dort stand ein altes Aluminiumsofa – moderner Stil des zwanzigsten Jahrhunderts – ein alter Mann lag darauf, so starr und still, daß Flowers ihn zunächst für tot hielt.
Er war sehr alt. Flowers dachte, daß er noch nie einen so alten Menschen gesehen hatte, obwohl die Behandlung von Greisenkrankheiten eine Spezialität des Medizinischen Zentrums war. Er hatte schlohweißes, dichtes Haar. Sein Gesicht war brüchig wie altes Leder.
Leah war neben dem Sofa auf die Knie gesunken. Sie hielt eine der knochigen Hände in den ihren, preßte sie, hatte die Augen geschlossen.
Flowers öffnete die Holztür und starrte in das Zimmer. Das alte Gesicht schien ihm irgendwie vertraut. Er bemerkte plötzlich, daß die Augen des alten Mannes offen waren.
Er schien von den Toten auferstanden zu sein. In den alten, blassen Augen funkelte Leben, und die Falten seiner alten Haut schienen sich zu glätten. Der Körper belebte sich, als der Alte lächelte.
»Kommen Sie herein«, flüsterte er. Leahs Gesicht wandte sich Flowers zu. Auch sie lächelte.
»Sie sind gekommen, um zu helfen«, sagte Leah.
Flowers schüttelte den Kopf, dann fiel ihm ein, daß sie nicht sehen konnte.
»Ich kann nichts tun.«
»Niemand kann etwas tun«, flüsterte der Alte. »Sie wissen auch ohne Ihre Geräte, was mit mir los ist. Man kann nicht einen ganzen Körper erneuern, wenn er sich verbraucht hat. Bei den meisten geht das stufenweise vor sich. Bei ein paar Menschen kommt es schlagartig.
Sie könnten mir ein neues Herz von
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