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Der Gamma-Stoff

Der Gamma-Stoff

Titel: Der Gamma-Stoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Gunn
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berührten seine Finger eine vertikal verlaufende Fläche. Eine Wand.
    Er drehte sich, schlurfte an der Wand entlang zu einer Ecke, an einer zweiten, kürzeren Wand entlang bis zu einer Tür. Sie war aus Metall und besaß eine Klinke, die sich aber nicht nach unten drücken ließ. Die anderen Wände waren ohne Eingang. Als er seinen Rundgang vollendet hatte, sah er einen fensterlosen Raum, ungefähr fünf Meter lang und drei Meter breit.
    Er setzte sich auf den Boden und ruhte sich aus. Jemand hatte ihn überfallen, bewußtlos geschlagen und eingesperrt.
    Es gab nur eine Person, die es gewesen sein konnte. Der Mann, den er von der Ambulanz weggezerrt hatte. Er war ganz langsam an den Wagen herangekrochen, so daß die verschiedenen Detektoren nicht reagiert hatten. Als Flowers erschienen war, schalteten sie ab, und der Mann konnte sich erheben, um ihn niederzuschlagen.
    Wenn er ein Straßenräuber war, wenn er die Medikamente und die Geräte in seinen Besitz bringen wollte, warum hatte er sich die Mühe gemacht, den Arzt mitzuschleppen?
    Er durchsuchte seine Taschen – ohne Ergebnis. Sie hatten ihm die Nadelpistole abgenommen.
    Er beschloß, sich hinter der Tür zu verstecken. Sobald sie sich öffnete – sie ging nach innen auf –, würde er dahinterstehen. Er besaß große und starke Fäuste. Er hatte durchaus eine Chance, die Straßenräuber zu überraschen.
    Inzwischen saß er in der dunklen Stille und erinnerte sich an den Traum, aus dem er erwacht war. Er war wieder ein kleiner Junge gewesen, und sein Vater sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen.
    »Ben, es mag wichtigere Dinge als die Medizin geben«, sagte sein Vater, »aber man kann ihrer nicht sicher sein.« Er legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. Sie war schwer, und Ben wollte sie abschütteln, aber er wagte es nicht.
    »Bei der Medizin ist alles anders. Du hast es mit dem Leben zu tun, und das Leben ist immer wichtig. Du wirst es jeden Tag fühlen, weil du jeden Tag persönlich mit dem Tod kämpfen, ihn zurückwerfen, einen Meter aufgeben und dich wieder zum Kampf stellen mußt. Denn das Leben ist heilig, Ben. Gleichgültig, wie gemein oder verkrüppelt es sein mag, es ist heilig. Davor beugen wir uns, Ben.«
    »Ich weiß, Papa«, sagte Flowers mit hoher Stimme. »Ich will Arzt werden. Ich will –«
    »Dann beuge dich, mein Junge. Beuge dich!«
    Aber warum mußte er jetzt an Leahs Vater denken? Warum rief ihm die Erinnerung an einen Vorfall, den es wahrscheinlich nie gegeben hatte, Russ ins Gedächtnis zurück?
    Lag es an den Worten des Sterbenden: Wenn Sie einmal Zeit haben …
    Und hatte er jetzt nicht Zeit?
    Zu viel Ärzte und nicht genug Heilende, das hatte der alte Mann gesagt! Absurd. Es glich nur zu sehr den vielen bedeutungslosen Phrasen, die gerade wegen ihrer Verschwommenheit bedeutsam erscheinen. Er dachte an die Diskussionen mit den anderen Ärzten.
    In der Dunkelheit schien sich der Krankenhausgeruch auszubreiten – Äther und Alkohol. Der gute Geruch. Der ehrwürdige Geruch. Jeder, der sich erlaubte, die Medizin zu kritisieren, wußte einfach nicht, wovon er sprach.
    Er erinnerte sich, daß er an kugelsicheren Fenstern des Schlafsaals gestanden hatte und auf die Häuser hinausstarrte, die man abriß, um Platz für die zwei neuen Flügel zu schaffen. Die Zwillingsprozesse der Zerstörung und des Aufbaus schienen kein Ende zu finden. Irgendwo an der Peripherie des Zentrums wuchsen ständig neue Flügel über den alten Ruinen hoch.
    Wie viele Straßenzüge umschlossen die Mauern des Zentrums? Vierzig? Fünfundvierzig? Er hatte es vergessen.
    Er mußte es laut ausgesprochen haben, weil Charly Brand ihm von seinem Schreibtisch aus Antwort gab.
    »Einundsechzig.«
    Brand war ein merkwürdiges Wesen, eine Ansammlung unzähliger Informationen, ein Gedächtnisspeicher, der auf jede Frage eine Antwort wußte. Aber es fehlte ihm etwas; er war kalt und mechanisch. Er war der Synthese unfähig.
    »Warum?« fragte Hal Mock.
    »Nur so«, sagte Flowers gereizt. »Ich habe vor ein paar Tagen einen Besuch gemacht, in der Stadt.«
    »So macht Gewissen Feige aus uns allen«, zitierte Brand, ohne von seinem Schreibtisch aufzusehen.
    »Was bedeutet das?« fauchte Flowers.
    »Manchmal wünsch’ ich mir, daß ein paar Leuten in unserer Klasse etwas zustößt – daß sie krank werden, nicht ernsthaft, verstehst du – sich ein Bein brechen. Die Schule darf nur eine gewisse Anzahl passieren lassen. Sie hat eine Quote. Aber wir sind alle so gesund, so

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