Der Gamma-Stoff
…
Harry hatte eine Ahnung, wie sich das erreichen ließ – indem man das normale Gammaglobulinmolekül auseinandernahm und es dann wieder zusammensetzte, Atom für Atom. Mit Strahlung und der neuen Schnellkühlung, mußte sich das machen lassen. Sobald er ein Forschungsstipendium und die entsprechenden Laboranlagen in die Hände bekam …
Er ging langsam zum Ausgang, vorbei an den Sprechzimmern mit ihren Diagnosesofas, an beiden Seiten des langen Korridors. Er blieb zwischen den riesigen Äskulapstäben stehen, die den Querbalken des Eingangs trugen, bevor er den rauschenden Luftvorhang erreichte, von dem die Hitze des Sommers, die Kälte des Winters, der Staub und die Krankheit der Stadt ferngehalten wurden. In diesem Stadium seiner Laufbahn war es Narrheit, an Forschungsstipendien zu denken. Sie waren für ältere, anerkannte Forscher, nicht für Jungärzte, nicht einmal für eifrige, junge Spezialisten.
Die Klinik war an der Mauer des Medizinischen Zentrums angebaut. Gegenüber lag die hohe Mauer einer Fabrik, die gepanzerte Wagen für den Export in die Vororte fertigte. Von dort bezog das Zentrum seine Ambulanzwagen. In einiger Entfernung stand ein zweites, kleines Bauwerk. Auf dem Dach war ein Neonzeichen befestigt: ›Hier wird Blut angekauft‹. Neben der Tür würde ein anderes, kleines Schild verkünden: ›Wir bezahlen jetzt fünf Dollar pro halben Liter.‹
In wenigen Minuten würden die Blutbanktechniker Kanülen in narbige Venen stecken, sobald die Arbeiter aus den Fabriken strömen würden. Sie würden sich im Labor drängen, ihre Lebensquelle spenden, und viele würden zurückkommen, um einen weiteren halben Liter abzapfen zu lassen, bevor noch zwei Wochen vergangen waren, geschweige denn zwei Monate. Es hatte keinen Sinn, sie in Karteien festzuhalten. Sie würden alles versuchen: Ausweise austauschen, sich die Haut am Unterarm aufreißen, damit der Einstich nicht mehr zu sehen war, schwören, daß die Narben von Antibiotikaspritzen stammten.
Und dann würden sie ihren Orangensaft hinunterstürzen – manche Kinder taten es vor allem deshalb, weil sie noch nie Orangensaft getrunken hatten –, ihre fünf Dollar nehmen und zum nächsten Händler hasten, der unerlaubte Antibiotika und Geheimmittel anbot. Oder sie würden das Geld einem Blutsauger aus der Nachbarschaft zustecken, damit er einen alten Invaliden mit Salbe einrieb oder Beschwörungsformeln über einem sterbenden Kind murmelte. Nun, die Arbeiter waren lebenswichtig. Das durfte er nicht vergessen. Sie dienten als riesiges Reservoir der Immunität. Sie waren allen Krankheiten ausgesetzt gewesen, die aus Armut, Unwissenheit und dem Schmutz entstanden, vor dem die Edelleute geschützt waren. Die Edelleute benötigten die Gammaglobuline der Bürger, ihre Antikörper. Die Edelleute benötigten die Seren, die in den Körpern der Bürger entstanden, die Impfstoffe, die aus ihrem Blut gewonnen werden konnten.
Ein bemerkenswerter Lehrer hatte ihn einmal mit der Bemerkung schockiert: ›Ohne Schmutz gibt es keine Sauberkeit. Ohne Krankheit gibt es keine Gesundheit.‹ Harry erinnerte sich daran, wenn er mit den Bürgern zu tun hatte. Das half.
Hinter der Blutbank schwang sich die Mauer des Zentrums in weitem Bogen nach rechts. Dahinter befand sich die Stadt. Sie lag nicht im Sterben, sie war tot.
Holzhäuser waren zu Haufen verfaulter Balken zusammengestürzt; Ziegelgebäude waren eingefallen; hier und dort reckte sich eine Wand empor. Aluminium- und Magnesiumwände waren durchlöchert und eingedrückt. Überall zeigte sich Verfall.
Aber wie sich grüne Ableger durch die verfaulende Laubdecke eines Waldes zwängen, wurde die Stadt neugeboren. Mit gestohlenen Brettern wurde eine Hütte gebaut. Hinter Häuserruinen stand ein Bungalow aus Ziegeln. Metallwände wurden zu Reihen von Baracken.
Der ewige Kreislauf, dachte Harry. Aus dem Tod Leben, aus dem Leben Zerstörung. Nur der Mensch vermochte ihm zu entkommen.
Von der ursprünglichen Stadt waren nur die mit Mauern umgebenen Fabriken und die riesigen Krankenhauskomplexe verblieben. Auf den Mauern blitzten gepanzerte Wachtürme, im orangeroten Flammenlicht der sinkenden Sonne. Während Harry das alles betrachtete, begannen die Pfeifen zu schrillen – in allen Tönen und Lautstärken, als seltsamer, krasser Kontrapunkt zum Sonnenuntergang. Primitiv und aufregend wie eine barbarische Zeremonie zur Besänftigung der Götter und zur Sicherung der Wiederkehr der Sonne.
Die Tore rollten hoch und
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