Der Gamma-Stoff
Wir mußten seinen Arm amputieren, um ihn abnehmen zu können.«
Mock wandte sich seinem Schreibtisch zu und ließ die Mikrofilmberichte wieder an der Milchglasscheibe aufleuchten. Nach wenigen Augenblicken sah er auf und schien erstaunt zu sein, daß Harry noch da war.
»Was stehen Sie hier herum? Machen Sie sich auf den Weg. Sie müssen noch vor dem Zapfenstreich das Zentrum verlassen haben.«
Harry drehte sich um und ging zur Tür, durch die er hereingekommen war.
»Hüten Sie sich vor Leichenschändern«, rief ihm Mock nach. »Und lassen Sie sich von den Kopfjägern nicht erwischen.«
Bis sie das Südwest-Tor erreichten, hatte Harry für seine kleine Begleitergruppe eine Methode des Vorankommens entwickelt, die für beide Seiten unbefriedigend war.
»Beeilt euch«, wiederholte er immer wieder. »Es sind nur noch ein paar Minuten bis zum Zapfenstreich.«
Das Mädchen sah ihn an und wandte den Blick ab. Pearce, der schneller voranschritt, als Harry es erwartet hatte, sagte: »Nur Geduld. Wir kommen schon rechtzeitig an.«
Keiner beschleunigte seine Schritte. Harry ging voraus und ließ die anderen hinter sich. Sein Handgelenk begann zu prickeln, dann zu brennen, dann zu schmerzen. Je weiter er Marna hinter sich ließ, desto schlimmer wurden die Schmerzen. Nur der Gedanke daran, daß sie dasselbe zu leiden hatte, ließ ihn durchhalten. Nach kurzer Zeit nahm der Schmerz ein wenig ab. Ohne sich umsehen zu müssen, wußte er, daß sie aufgegeben hatte. Als er sich umdrehte, war sie sechs Meter hinter ihm; sie schien bereit zu sein, ein gewisses Maß an Schmerzen hinzunehmen.
Dann mußte er stehenbleiben und auf den alten Mann warten. Einmal ging sie an ihm vorbei, aber nach einer Weile konnte sie die Schmerzen nicht mehr aushalten und kam zurück. Von da an blieb sie stehen, sobald er es tat.
Es war ein kleiner Triumph für Harry, wenn er an den tödlichen Reif an dem Handgelenk dachte, an die merkwürdige Situation, daß das Medizinische Zentrum seit drei Wochen keine Verbindung zu der Gouverneurs-Villa hatte, daß ein Konvoi sein Ziel nicht zu erreichen vermochte, daß eine Botschaft durch einen wandernden Boten überbracht werden mußte.
Unter anderen Umständen hätte Harry Marna mit Genuß betrachtet. Sie war schlank und graziös, hatte eine wunderbar helle Haut, regelmäßig geformte Züge, und der Kontrast zwischen ihrem dunklen Haar und ihren blauen Augen war auffallend. Aber sie war jung und trotzig und durch einen hassenswerten Umstand an ihn gebunden. Sie waren zu früh aneinander gekettet worden, und überdies war sie ja noch ein Kind.
Sie erreichten das Tor eine Minute vor dem Zapfenstreich.
Zu beiden Seiten erstreckte sich der Doppelzaun in die Ferne. Es gab ja auch kein Ende, denn er umgab die ganze Stadt. Nachts wurde Strom hindurchgeleitet, und auf den Mann dressierte Hunde liefen zwischen den Zäunen hin und her.
Irgendwie gelang es immer wieder Bürgern, zu entkommen. Sie bildeten Banden, die hilflose Reisende überfielen. Das war eine der Gefahren, mit denen sie zu rechnen hatten.
Der Wachhabende am Tor war ein dunkelhäutiger Edelmann in mittlerem Alter. Mit sechzig Jahren hatte er jede Hoffnung aufgegeben, noch der Unsterblichkeit für würdig befunden zu werden; er gedachte sich das Leben so schön wie möglich zu machen. Dazu gehörte auch, daß er diejenigen schikanierte, die unter ihm standen.
Er besah sich den blauen, nur für Tageslicht gültigen Paß, dann blickte er Harry an.
»Topeka? Zu Fuß.« Er lachte. Sein großer Bauch erzitterte, bis er husten mußte. »Wenn die Leichenschänder euch nicht erwischen, dann die Kopfjäger. Pro Kopf werden jetzt zwanzig Dollar bezahlt. Nur für Köpfe von Verbrechern, versteht sich, aber Köpfe reden nicht. Nicht, wenn sie mit dem Körper nicht mehr verbunden sind. Das habt ihr natürlich vor – euch an eine Bande anzuschließen.« Er spuckte auf den Gehsteig.
Harry wich angeekelt zurück.
»Lassen Sie uns durch?« fragte Harry.
»Euch durchlassen?« Der Wachhabende schaute auf die Uhr. »Das geht nicht. Zapfenstreich ist schon vorbei. Seht ihr?«
Harry beugte sich automatisch vor, um selbst hinzusehen.
»Aber wir sind doch noch vor dem Zapfenstreich –«, begann er. Die Faust des anderen traf ihn über dem linken Ohr und warf ihn zurück.
»’rein mit euch und hiergeblieben, ihr dreckigen Bürger«, schrie der Wachhabende.
Harrys Hand zuckte zur Tasche, wo er den Hypo-Spray verwahrte, aber der war verschwunden. Worte, die
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