Der Gamma-Stoff
diesen Mann aus seiner Stellung in die Vergessenheit blasen würden, drängten sich auf Harrys Lippen, aber er wagte nicht, sie auszusprechen. Er war nicht mehr Doktor Elliott, nicht, bis er die Gouverneursvilla erreichte, er war Harry Elliott, Bürger, leichte Beute für die Faust jedes Mannes, und er durfte sich glücklich schätzen, wenn es nur eine Faust war.
»Wenn du als Sicherheit das Mädchen hierlassen würdest«, begann der Wachhabende und hustete.
Marna wich zurück. Ungewollt berührte sie Harry, und Harry spürte etwas Eigenartiges. Sein Körper zuckte vor der Berührung zurück wie vor einem kochend heißen Sterilisator. Marna erstarrte.
Harry sah Pearce auf den Wachhabenden zuschlurfen, geleitet von seiner Stimme. Pearce streckte tastend die Hand aus, berührte seinen Arm und tastete sich von dort bis zur Hand. Harry ballte die Fäuste und wartete darauf, daß der Wachhabende den alten Mann niederschlug. Aber er zollte ihm instinktiv den Respekt, den das hohe Alter fordern kann und sah ihn neugierig an.
»Schwache Lunge«, flüsterte Pearce. »Vorsichtig sein. Eine Lungenentzündung kann tödlich sein, bevor die Antibiotika wirken. Und im linken unteren Lappen eine Andeutung von Krebs –«
»Ach was!« Der Wachhabende machte sich los, aber seine Stimme klang verängstigt.
»Röntgen lassen«, flüsterte Pearce. »Nicht warten.«
»Mit – mit mir ist alles in Ordnung«, stammelte der Wachhabende. »Sie – sie wollen mir nur Angst machen.« Er hustete.
»Keine Überanstrengung. Hinsetzen. Ausruhen.«
»Aber – ich – –« Er begann krampfhaft zu husten und wies mit dem Daumen zum Tor.
»Los«, sagte er erstickt. »Zieht hinaus und geht zugrunde.«
Der Junge namens Christopher nahm die Hand des alten Mannes und führte ihn durch das offene Tor. Harry ergriff Marnas Oberarm – wieder der Kontakt – und schob sie hinaus, ohne den Blick von dem Wachhabenden zu lassen. Aber er schien sie bereits vergessen zu haben und besorgt in sich hineinzuhorchen.
Hinter ihnen rasselte das Tor herunter, und Harry ließ Marnas Arm los, als koste es ihn Überwindung, ihn festzuhalten.
Nach fünfzig Metern, auf der rechten Spur der nicht benützten sechsspurigen Autostraße, sagte Harry: »Ich sollte mich wohl bedanken.«
»Das wäre höflich«, flüsterte Pearce.
Harry rieb sich den Kopf, wo ihn die Faust des Wachhabenden getroffen hatte.
»Wie kann ich zu einem Scharlatan höflich sein?«
»Höflichkeit kostet nichts.«
»Trotzdem – den Mann über seinen Zustand zu belügen, zu behaupten – Krebs –« Harry brachte das Wort kaum über die Lippen. Es war die einzige Krankheit, für die die medizinische Wissenschaft kein endgültiges Gegenmittel gefunden hatte.
»Habe ich gelogen?«
Harry starrte den alten Mann scharf an, dann hob er die Schultern. Er wandte sich Marna zu.
»Wir sitzen alle in einem Boot und sollten es uns so schmerzlos wie möglich machen. Wenn wir uns bemühen, miteinander auszukommen, kommen wir vielleicht alle lebend durch.«
»Miteinander auskommen?« sagte Marna. Harry hörte sie zum erstenmal sprechen; ihre Stimme klang melodiös und tief, sogar im Zorn. »Damit?« Sie hob den Arm. Der silberne Reif schimmerte unter den letzten rötlichen Strahlen der Sonne.
Harry hob die Hand und sagte rauh: »Glauben Sie, daß es für mich besser ist?«
»Wir werden uns Mühe geben, Christopher und ich«, flüsterte Pearce. »Ich, Dr. Elliott, weil ich zu alt bin, um etwas anderes tun zu können, und Christopher, weil er jung ist und Disziplin jungen Menschen nur nützen kann.«
Christopher grinste. »Opa war Arzt, bevor er gelernt hat, wie man heilt.«
»Stolz stumpft die Sinne ab und verdirbt das Urteilsvermögen«, sagte Pearce leise.
Harry enthielt sich mit Mühe eines Kommentars. Jetzt war nicht die Zeit, sich über Medizin und Quacksalberei auf Diskussionen einzulassen.
Die Straße lag verlassen da. Die einstmals großartige Betondecke war rissig und aufgebrochen. Überall wuchs Gras in dicken Büscheln. Das Gras ragte jungen Bäumen gleich an beiden Straßenrändern empor, hier und dort von Sonnenblumen durchsetzt, die friedlich vor sich hinnickten.
Dahinter lagen die Ruinen dessen, was man einst die Vororte genannt hatte. Der Unterschied zwischen ihnen und der Stadt war nur eine Linie auf der Karte gewesen; damals hatte es noch keine Zäune gegeben. Als sie errichtet worden waren, gingen die Häuser bald zugrunde.
Die eigentlichen Vororte lagen weit draußen.
Weitere Kostenlose Bücher