Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
lachte schallend, als sie sah, mit welcher Fingerfertigkeit der liederliche blonde Sänger eine Version zum Besten gab, die er von einer LP mit Kinderliedern stibitzt hatte, dabei aber so tat, als hätte er sie auf einer moosigen Musiksuchexpedition in die Appalachen höchstpersönlich zutage gefördert, als hätte er sie bei der Gelegenheitsarbeit in einem Bahndepot gerettet oder als hätte er genau bei der Farm, auf der die graue Gans aufgewachsen war, an der Küchentür gebettelt. Sie lachte, als sie sah,wie selbstgefällig die Wiedergabe von denen verschlungen wurde, die keine Unterschiede wahrnehmen konnten – oder die sich eher Splitter unter die Fingernägel getrieben hätten, als zuzugeben, dass sie Ives’ Version kannten. Der Junge neben ihr drehte sich wie jedes Mal, wenn sie an diesem Abend grundlos gelacht hatte, zu ihr und fragte: »Was denn?«
»Nichts.« Sie konnte das alles nicht erklären, ihm schon gar nicht. (Jahre später sollte es sein Name unter so vielen sein, den sie, die berühmte Erinnerungskünstlerin, einfach nicht zutage fördern konnte.) Dann lachte Miriam wieder und sagte: »Wisst ihr, wofür die graue Gans steht?«
»Häh?«
»Ich möchte wissen, was die graue Gans symbolisiert. Ich dachte, ihr wüsstet das vielleicht.«
Der Song war jetzt vorbei, und sie hatte die Aufmerksamkeit des ganzen Tischs sowie des Nachbartischs. Stühle, die längst umgedreht worden waren, so dass Brüste die Rückenlehnen berührten, quietschten unter zigarettenbewehrten, zur Balance achtlos auf die Lehne gestützten Händen. Der Abstand zwischen verschiedenen Tischen, zwischen Freunden und Fremden, zwischen denen, die in der einen Gruppierung gekommen waren und vielleicht in einer anderen gehen würden, in Paaren, komplizierten Dreiern oder auch allein, wurde schon eine ganze Weile nicht mehr gewahrt.
»Erleuchte uns, Mim«, sagte Porter, der Schlaue mit der Hornbrille, der Mann von der Columbia. Der sie schon seit ein paar Abenden beäugte, aber zu gute Manieren mitbrachte, um sie dem Jungen wegzuschnappen. Vielleicht glaubte er, er hätte alle Zeit der Welt. Vielleicht gab sie ihm die auch.
»Na, wenn du schon fragst, die graue Gans steht für das unabänderliche Schicksal der Arbeiterklasse.« Noch nie hatte es Miriam solchen Spaß gemacht, einen Roseismus wiederzukäuen.
Rye Gogan beugte sich wie ein Wolf bei Walt Disney vom Nachbartisch herüber und sagte: »Junge, pass bloß auf – dein Mädchen isteine Rote.« Rye, der mittlere Bariton der Gogan Boys, die als Gruppe zu groß für diese Bühne waren (nicht nur ihres Rufs wegen, sondern rein körperlich; die drei Irenlümmel hätten in ihren dicken Brokatwesten nie im Leben auf das Podium dieses Clubs gepasst), war der Prominenteste unter den Anwesenden, auch wenn das niemand zugegeben hätte. Und niemand konnte zwar sagen, wie genau so etwas in Umlauf kam, aber Rye Gogan war auch bekannt dafür, schlimmer als ein Wolf zu sein. Am Ende des Abends ein betrunkener Haifisch. Das Mädchen, das am weitesten hinausgeschwommen war, war dann üblicherweise verloren.
»Nein, sie ist wirklich eine«, sagte Porter. Er gehörte zu den Leuten, die einem immer zustimmten, indem sie einen Satz mit »nein« anfingen, als hätte man das Gesagte nicht so gemeint, wie sie es nötig gefunden hätten. »Im Gegensatz zu uns Papiertigern, meine Herren. Mim ist in einer Zelle aufgewachsen, sie hat an Geheimtreffen teilgenommen. Sag’s ihnen, Mim.«
»Treffen?«, knurrte Rye. »Wer hat das nicht?« Der irische Sänger krümmte die Schultern, so dass die Weste, sein Markenzeichen, wie ein feuchtes und schmutziges Segel von der Takelage seiner Brust hing, und knarzte seinen Stuhl wieder zu seiner eigenen Gruppe zurück. Wahrscheinlich sagte er sich, dass eine Auseinandersetzung mit Miriams Tisch einfach auf mehr Klugscheißerei hinausgelaufen wäre, als sich lohnte, selbst wenn er Miriam für eine spätere Haijagd zum Ufer auserkoren hatte.
»Ihr habt ja keine Ahnung«, sagte Miriam zu Porter, zu Porters Freund, der mit einiger Sicherheit Adam hieß, und zu dem Mädchen vom Barnard, das Adam mitgebracht hatte, das angeblich aus Connecticut stammte und dem anscheinend schon seit einer Stunde schlecht war. »Ich bin reinrassig. Mein Vater ist ein deutscher Spion.«
»Kann der uns Zutritt zu Norman Mailers Party verschaffen?«, fragte Adam. Adam wusste oder tat jedenfalls so, als wisse er, wo heute Abend die Puppen tanzten. Allen verrauchten Kellerclubs oder dem
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