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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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enttäuscht hatte, von ihm blamiert war, weil er Douglas blamiert hatte usw. – genauso wie sie einst von ihrem Kind entzückt gewesen war, weil er vor langer Zeit und viel zu kurz das Entzücken seines Vaters gewesen war. Douglas Lookins’ Wort war vielleicht nicht Gesetz – de facto waren seine Worte eher ein Flächenbrand, der eingedämmt werden musste –, aber seine Gefühlsstürme waren die Zehn Gebote.
    Falls es zehn waren. Cicero bezweifelte, dass er soviele aufsagen konnte.
    Ein erstes Mal: Cicero Lookins hatte erst sechs Wochen zuvor seinen ersten Schwanz im Mund gehabt. Dieses Wunder, das sich in einem einmaligen Akt vollkommener, doppelblinder Heimlichkeit manifestiert hatte, musste ihm doch anzusehen sein, sagte sich Cicero, musste so offenkundig sein wie seine Schwärze, so eindrucksvoll wie der blühende Lupus-Ausschlag auf den Wangen seiner Mutter. Ein Teil von ihm stimmte also seinem Vater zu, sah mit den Augen von Douglas Lookins auf die Bühne und war genauso angewidert wie er von dem, was plötzlich und unabänderlich aus Cicero geworden war: einer, der nicht nur wollte, was er wollte, sondern das Risiko einging, es sich zu holen. Ein viel größerer Teil von ihm verweilte jedoch im unterirdischen ethnischen Sinne des Appetits, war überglücklich und rechtschaffen und stach in diesem Augenblick vom Festpodium der Guardians aus in See, blind für Zeit und Raum (segelte weit hinaus über die grausigen jungfräulichen ersten beiden Jahre in Princeton, in denen er außer dem eigenen nie einen Schwanz zu packen bekam),unterwegs in eine Zukunft, in der ihn der Tadel eines alternden Polizisten nicht mehr im geringsten erreichen konnte.
    Wear your love like heaven.
    Indessen strahlte Rose Zimmer ihn von ihrem Platz hinten im Ballsaal an, stand auf und johlte mit den Schwarzen, verströmte ungetrübten Stolz, als hätte sie das Siegertreppchen und das Podium höchstpersönlich mit Hammer und Sichel erbaut, als hätte sie jede einzelne Blume im Saal mit den Zähnen gepflückt, als hätte sie eine Emanzipationserklärung unterzeichnet und die Sklaven befreit.
    —
    Nach dem Knarren und Schlurfen der letzten Abgänge aus dem Seminarraum war Cicero wieder da, wo er als allerletztes sein wollte: auf See mit Sergius Gogan. Dabei war er selbst schuld, denn er hatte ihn ja eingeladen, bei der Detonation der afroamerikanischen 140-Kilo-Neutronenbombe dabeizusein. Auch an guten Tagen verließ Ciceros Klientel den Raum unter einem Beerdigungsbaldachin des Schweigens – Applaus erwartete er gar nicht. Eine seltsame Sache, diese Kunst des Professors, die esoterische Transaktion im Herzen der Bürokratie aus Curricula und Gremien: sich vor ihnen zu dekantieren, sie herauszufordern, in den Morast des eigenen Denkens zu waten, was dann »Pädagogik« genannt wurde. Kollegen reihten sich an den Institutskorridoren auf wie rivalisierende Kirchen an einer Hauptstraße, und keine zwei glichen einander in ihren rituellen Methoden und okkulten Ursprüngen. Nur waren die Studenten keine Kirchgänger. Sie schauten sich bloß um wie Kunden in einem Einkaufszentrum.
    Heute war alles andere als ein guter Tag gewesen. Ja, die Grundausbildung der Highschool, den Hintern auf dem Sitz zu halten, hatte die Abflüsse aus dem Seminarraum nach den ersten Deserteuren trockengelegt. Und ja, ein paar hatten den Mund aufgemacht. Cicero hörte nur unkonzentriert zu, als sie die seichten Hosentaschen ihres Kummers umstülpten – die genormten Scheidungen, in Heimen verwahrtengeistig zurückgebliebenen Geschwister und klimakterischen Gereiztheiten, die sie entdeckten, wenn sie mal einen Blick unters Heftpflaster riskierten. Ihre Banalitäten machten die Banalität seiner Kümmernisse in der Form, in der er sie ventiliert hatte, nur um so schmerzhafter spürbar. Am historischen Überbau gestrandet. Kontext, immer der Kontext. Die jungen Erwachsenen vom Baginstock College hätten nicht ermuntert werden dürfen, ihre Koliken aufzupolieren, nicht bevor sie tausend Seiten oder sogar zehntausend Seiten gelesen hatten – Eine andere Welt, Tausend Plateaus und Menschliches, Allzumenschliches, Jane Bowles, Lauren Berlant und Octavia Butler, Sachen, die in »Ekel und Nähe« erst in Monaten auf Ciceros Lektüreliste standen, und Sachen, die jede Lektüreliste überforderten. Sie sollten solche Selbstgefälligkeiten nicht über sich ergehen lassen müssen, und es war falsch gewesen, mit seinem Beispiel voranzugehen. Ciceros Koliken hatten nur

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