Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
schon mindestens einmal erlebt hatte. Am Tresen tippte Cicero bei der letzten verbliebenen Bärenklaue in ihrem Nest aus Puderzucker und Mandelstiften auf die Glasscheibe. Ein Silberstreif am Horizont. Sergius und Lydia bestellten Caffè Latte und holten sich bergeweise viereckige Kuchenstücke.Lydia löffelte sich noch mehr Zucker in den Kaffee; Amerikas Saccharosesucht gehörte anscheinend nicht zu der ansonsten breiten Palette der Occupy-Kritik.
»Die Sache ist, Lydia und ich haben uns unterhalten, und da ist mir klargeworden, dass das Bowery- Album meines Vaters im weitesten Sinne ein Vorläufer der Bewegung ist. Die Vergessenen sind doch quasi ein Entwurf der 99 Prozent, stimmt’s?«
»Das musst du mir erklären«, sagte Cicero, und dann knebelte er sich mit der Bärenklaue, bevor er seine eigenen Interessen weiter verraten konnte.
»Na, wenn du im Zuccotti Park oder bei uns in Philly dabei gewesen wärst, hättest du das sofort gemerkt. Egal worum es am Anfang ging – als das Zeltdorf errichtet wurde, drehte sich die ganze Bewegung darum, die städtischen Nichtsesshaften wieder sichtbar zu machen. Zu zeigen, was der kleine Mann mit ihnen gemeinsam hat. Nur mussten wir das selbst erst lernen, indem wir auf der Straße lebten.«
Im Lyrical Ballad knurrte Tom Waits aus den Boxen und bot seine Kunstakademieversion eines Hobolamentos feil, der Kehlkopf vom Reflux vernarbt – das genaue stimmliche Äquivalent blonder Dreadlocks. Cicero hatte plötzlich Angst, er könne in Rekursionen von Minstrel Shows ertrinken, schwarz geschminkte Weiße einer bestimmten Sorte, die sich an die kulturelle Vereinnahmung der Negervagabunden machten. Der schwarze Penner war kulturell schwer angesagt. Wenn Tommy das bloß noch erlebt hätte. Soweit Cicero wusste, hatte der jüngste Gogan Boy nie auch nur eine einzige Nacht »auf der Straße« verbracht; Cicero fragte sich, wieviele Nächte Sergius wohl geschafft hatte, auch wenn er mit seiner Verbundenheit zu Occupy Philadelphia angab. Lydia dagegen – dem Mädchen roch Cicero das an.
Sie fräste sich durch ihren Kuchen, machte jetzt aber eine kurze Pause. »Es war Sergius einfach vorherbestimmt, genau in diesem Augenblick vorbeizukommen. Ich meine, ich kenn bestimmt eine Milliarde Songs.«
In dämmernder Panik ging Cicero die Ironie auf. Sergius war aufder Suche nach familiärer Aufklärung nach Cumbow gekommen. Da Cicero dazu nicht bereit gewesen war, hatte er sie irgendwie vom Bordstein gekratzt. Das war die direkte Folge von Ciceros Nichteinladung, mit ihm zu Sauvignon Blanc und Gnocchi im Five Islands Grill mitzukommen: Ciceros Belohnung, nicht mit Sergius zusammen essen gegangen zu sein, bestand im Frühstück mit Sergius’ neuer Freundin alias dem Geist von Tom Joad. Einem Mädchen, dessen offener und unbekümmerter Blick, dessen überstürzte Vertraulichkeit und dessen Wichtigtuereien Cicero vor allen Dingen an, genau, eine siebtklassige Miriam Gogan erinnerten. Nicht dass Cicero vorhatte, Sergius mit diesem Vergleich zu kommen. Der sollte ruhig weiter und verblendet seiner Mutter nachrennen. Aber er sollte diesem Sport bitteschön nicht länger in Cumbow, Maine, nachgehen.
»Ich hab heute Morgen an Ciceros Seminar teilgenommen«, erzählte Sergius Lydia. »Das muss das erste Mal seit, Mann, zwanzig Jahren gewesen sein, dass ich in einem Uniseminar gesessen hab.« So arglos Sergius auch den Altersunterschied zwischen ihnen beiden herausstrich, so wenig konnte das Lydia daran hindern, unverwandt in seine Richtung zu strahlen. Cicero sagte sich, wenn Lady Milliardensongs beim Gedanken an Tommy Gogans Leiche einer abging, dann konnte dieser verfügbare Ersatz im Vergleich dazu jugendlich wirken.
»Cool. Was unterrichtest du denn, Cicero?«
Sie war seit langem der erste Mensch ihres Alters, der ihn nicht als Professor Lookins ansprach. »Lass dir das doch von Sergius erzählen.« Und mach beim Kauen den Mund zu.
»Na ja, ich hab die Texte ja nicht gelesen, aber anscheinend war das auch nicht so wichtig.« Sergius klang richtig munter – das Occupy-Mädchen und er konnten anscheinend nicht anders, als sich verträumt anzuzwitschern. Dass er einen Rüffel vorbereitete, kam bei Cicero deswegen nicht gleich an. »Ich hatte sowas wie marxistische Literaturtheorie erwartet, aber ehrlich gesagt, war das ja eher ’ne Lektion im Abheulen.«
»Das war im höchsten Grad politisch«, sagte Cicero jetzt hitzig.»Du solltest dich vielleicht mal mit dem ›Affective Turn‹
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