Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
ihrer Fingerfertigkeit, deretwegen auch buddhistische Quäker, jüdische Quäker, ja sogar atheistische Quäker an den Stillen Andachten teilnahmen.) Murphy las George Fox, brachte im Unterricht Aphorismen des verrückten Gründervaters der Gesellschaft der Freunde an, und der erste Song, den jeder fortgeschrittene Gitarrenschüler bei ihm lernte, noch bevor Murphy ihren Wünschen nachgab und sie die Geheimnisse von »Dear Prudence« oder »Stairway to Heaven« knacken ließ, war »Simple Gifts« mit dem neuen Quäker-Text:
Gehe im Licht, wo immer du auch bist
Gehe im Licht, wo immer du auch bist
Mit wirrem Haar und im Schmutz des Lederrocks
Gehe ich im Ruhm des Lichts, sagte Fox!
Dass die jüngeren Lehrer in Pendle Acre notdürftig gesäuberte, rustikale Hippies waren, verstand sich von selbst. Eine Anstellung als Lehrkraft und volle Kost und Logis in einem liberalen Internat war ein strategisch geschickter Rückzug aus der angeschlagenen Gegenkultur ins pastorale Idyll. Sie flohen vor denselben Beschädigungen einer Lebensweise, die auch die Schüler nur zu gut kannten, besonders die, die am Wochenende mit dem Greyhound nach Philadelphia oder New York fuhren. Murphys genaue Vorgeschichte blieb verschleiert, aber er gehörte zu ihnen. Genauer gesagt, ein Folkie mit gebrochenen Schwingen, ein weiteres Opfer von Dylans quecksilbriger Zerstörung des Akustik-Revivals. Aber vielleicht war Murphy auch zu rein gewesen, um nur Dylans Frühstil zu tolerieren. Vielleicht war ihm dasganze zeitgenössische Songwriting einfach zu pompös. Er ließ das manchmal durchblicken. Er hatte in einem Duo gespielt, Murphy & Kaplon, die es nie bis ins Studio geschafft hatten und nur ein einziges Mal aufgenommen worden waren, mit einem einzigen Song auf einer Anthologie-LP mit dem Titel Live at the Sagehen Café, wo sie »The Cruel Ship’s Captain« gespielt hatten. Murphy hatte mit Tommy Gogan im selben Konzertprogramm gestanden! Dem Sohn gab er allerdings wenig subtil zu verstehen, dass er die Stimme von dessen Vater lieber zusammen mit denen seiner Brüder auf einem der irischen Harmoniealben hörte, die Tommy so verachtete.
Ja, Murphy hatte Sergius’ Mutter gekannt. Ein bisschen. Dünnes Lächeln, als er das verriet. Murphy gehörte zu den ernsthaften Typen, die Miriam unweigerlich provoziert hätte, weil sie einfach nicht anders konnte. Ja, Murphy hatte sie beide gekannt. Als sie sich für die Reise nach Nicaragua freimachen wollten, war es daher kein Zufall, dass Tommy und Miriam Sergius mit dem Schulgeld vom 15th Street in Pendle Acre unterbrachten, wo der Junge im West House unter die Obhut von Vertrauenslehrer Murphy kam. Es spielte keine Rolle, ob der schrecklich engagierte, hasenschartige, Gitarre zupfende, achtsame Quäker-Musiklehrer gebrochene Schwingen hatte oder nicht, Sergius Gogan war jedenfalls unter seinen Schwingen gelandet. Es spielte auch keine Rolle, wer wen als erster angerufen hatte und welche Vorbesprechungen zwischen Rektor und anderen stattgefunden hatten, am Ende war es Harris Murphy, der Sergius an jenem Tag beiseite nahm und dem Achtjährigen erklärte, seine Eltern würden vermisst. Und drei Wochen später war es Murphy, der den Jungen wissen ließ, dass an einem Hügel die Leichen von Tommy und Miriam ausgegraben worden waren, exhumiert zusammen mit einem dritten Toten, der vermutlich ebenfalls Amerikaner, vorläufig aber noch nicht identifiziert worden war. Sie würden nach New York City zurückgeflogen – aber Sergius würde vorläufig bleiben, wo er war. Und wie sich herausstellte, sollte er praktisch für immer dort bleiben.
Sergius kam an jenem Tag gar nicht auf die Idee, nach seiner Großmutterzu fragen. Murphy erwähnte sie nicht. Die beiden übrig gebliebenen Gogan Boys hielten sich über Wasser, indem sie mit dem Konzertbus die westkanadischen Folkclubs abklapperten, und kamen auch nicht infrage. Sergius würde fortan in Pendle Acre leben. Die ganze Schule würde ihn erziehen. Das Quäkertum würde ihn erziehen. Sergius stellte an jenem Tag überhaupt keine Fragen.
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Murphys Bleibe im West House: die Zimmer mit den niedrigen Decken und dem Kellerzugang; die riesige Musikwand mit Jazz- und Blues-LPs, alles andere bescheiden und mönchisch; der angegammelte rote Teppich, der den Kellerboden aus Gussbeton nur notdürftig bedeckte; Murphys Kochnische, das ersterbende Pfeifen seines Teekessels; die Obstkisten mit Bukowski, Castaneda und Frank Herbert; seine beiden Gitarren in ihren
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