Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
mit zusammengezogenen Augenbrauen konzentrierten, alle in dem großen stillen Saal lächelten die Kinder an, die hereingesickert kamen und die Stimmung in derRegel kaputtmachten. Zur Andacht der Quäker gingen alle möglichen Erwachsenen, die ansonsten ihre wilde Verschrobenheit und ihre Unberechenbarkeit zur Schau stellten – die Alten, die Schrägen, die Juden, die New Yorker aller vormaligen Intensitäten –, um sich in Harmlosigkeit zu üben. Und das mochte Sergius daran so.
Die Quäker sprachen oft vom Inneren Licht – »dem Licht Gottes in jedem Menschen«. Für Sergius verschmolz das unausweichlich mit der Vorstellung einer Zündflamme, deren Geheimnisse er vom ramponierten Kenmore-Gasherd mit dem abgesplitterten Emaille in der 7th Street kannte: Für ihn war das Innere Licht seinem Wesen nach verstopft und zündete nicht. Etwas, das die Außenfläche seines Gehäuses anscheinend kühl und auf wundersame Weise ungefährdet ließ. Miriam erklärte ihm immer wieder, er müsse nicht Wache stehen: Es machte nichts, wenn man einfach vergaß, dass es überhaupt eine Zündflamme gab! Und vielleicht glich ein Quäker einem Herd ohne Schalter für das Entzünden der Gasstrahlen; mit einem Quäker konnte man ein Kind bedenkenlos allein lassen. Und wenn in der Kommune niemand Lust hatte, den Babysitter zu spielen, verfrachteten Tommy und Miriam Sergius in die Nachmittagsspielgruppen im Refugium hinter den hohen Toren vom 15th Street, wo er von gütigen kinderlosen »Älteren« oder keuschen Teenagern mit Zöpfen und Umweltschutzzeichen auf den Jeans behütet wurde und in einem mit schwarzen Matten ausgelegten Innenhof auf Spielgeräte kletterte, beschattet von den Laubbäumen der verborgenen Oase im Auge des Sturms von Manhattan.
Am Sonntagabend vor Weihnachten öffnete das 15th Street weit die Türen und fuhr ein großes, gutverdauliches Festessen für die Quäker und die Obdachlosen der Gegend auf. Da wusste Sergius schon, dass die Stadtstreicher bei seinem Vater einen wunden Punkt berührten. Er fand sie vielleicht nicht ganz so erbarmungswürdig wie die Kandidaten für die Todesstrafe, aber diese waren weit weg und abstrakt, denen lief man nicht über den Weg und bot ihnen Zigaretten an, Tassen Kaffee oder Burger vom White Castle in großen fettigen Papiertüten.Also hatte sich Tommy als Freiwilliger gemeldet, bediente die Männer, die wegen der Gratismahlzeit kamen, und hatte vorsichtshalber die Gitarre dabei, falls es was zu singen gab. Er redete Sergius zu mitzukommen – Miriam verzichtete wie immer dankend, bei Quäker-Sachen mitzumachen, aber geht ihr Jungs ruhig, haut mal richtig auf die Pauke –, und dort traf Sergius eben wie aus heiterem Himmel Santa Claus.
Nachdem Sergius das Geschenk aufgemacht hatte, behielt er das Buch für sich und setzte sich von den anderen ab, den sehnigen Männern, die sich Bauch und Manteltaschen mit Truthahn und Backkartoffeln füllten, den anderen Kindern, die den Mann im roten Anzug bedrängten, seinem Vater, der jetzt leise die Gitarre anschlug und die musikscheuen Quäker mit einer irisch gefärbten Version von »Stille Nacht« umgarnte. In einen Sessel zusammengekuschelt, studierte Sergius, soweit er es verstand, das Märchen vom Kalb, das zu einem großen Stier heranwuchs und sich doch allem verweigerte, nur an Blumen schnupperte, selbst wenn er in einer Arena voller johlender Zuschauer auf den Rängen mit vorgehaltener Klinge bedroht wurde. Dann verlangte es ihn nach den Worten, und kaum zu Hause angekommen, bedrängte er Miriam, ihm das Buch auf der Stelle vorzulesen. Sergius’ Mutter las gern und viel vor, hielt sich aber an ihren eigenen Kanon und zwang ihm Alice oder den Hobbit auf, durch den sie ihn allabendlich geschleift hatte, durch ein trübes Kapitel nach dem anderen. Sergius wollte Bilder in seinen Büchern – jetzt hatte er sie.
» Ferdinand, ja klar, cool. Das Buch hatte ich als Kind auch schon, weißt du?«
Nein, wollte er sagen. Das ist ein neues Buch. Das ist mein Buch. Es gehörte nicht zu ihrer Sammlung von Magneten, zu dem Nebel an Verweisen, durch den hindurchzusteuern sein Vermächtnis war. Nein. Das habe ich von Santa Claus bekommen, den du nie getroffen hast. Plötzlich diese Wut auf sie! Hatte er das je zuvor gewagt? Er strich über den glatten sauberen Einband und hätte es ihr fast wieder weggenommen, aber sie musste ihm ja die Wörter vorlesen.
Noch bevor er lesen konnte, hatte Sergius das gesamte Evangelium von Ferdinand dem
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