Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Ständern, beide vom Strumming schon ohne Firnis; seine Stapel von Pseudobüchern und alten Heften vom National Lampoon, in deren Collagen Sergius die ersten Fotos nackter Frauenbrüste erspähen sollte (im Gegensatz zu den echten Brüsten von Stella Kim, die er eines Februarmorgens erspäht hatte, als die Heizkörper der Kommune volle Pulle drauf losknisterten und -röhrten und Stella verwirrenderweise auf BH und T-Shirt verzichtet hatte); Murphys große, wasserfleckige Kopie von Edward Hicks’ Königreich des Friedens, dem offiziellen Meisterwerk der Quäker, auf dem das Lamm bei den anderen Tieren der Fauna lagerte und dessen gemalte Kopie Sergius und andere Mittelstufenschüler eines Tages zu Gesicht bekommen sollten, als Murphy mit ihnen eine Exkursion nach Philadelphia machte; ein gerahmtes Plakat vom Village Gate mit der Ankündigung des Konzerts, bei dem Murphy & Kaplon als Vorgruppe von Skip James aufgetreten waren, und dem rot gekritzelten Autogramm von James; Murphys ganze armseligen Eitelkeiten und Geheimnisse breiteten sich aus, und wie Sergius später verstand, merkte er sich das alles als Entschädigung und Rache dafür, dass Murphy ihn damals indiese Zimmer gebracht hatte, um ihm zu sagen, dass seine Eltern vermisst würden, und dann noch ein zweites Mal, um ihm zu sagen, dass sie tot waren.
Murphys Zimmer. An die konnte Sergius sich erinnern.
Sergius hatte eine private Erinnerungstheorie entwickelt, um zu verstehen und sich zu vergeben, woran er sich nicht erinnern konnte. Er erklärte es sich so: Man erinnerte sich an das Dauerhafte und an das Ungewöhnliche. Das Dauerhafte, weil es blieb und einen an sich erinnerte. Das Ungewöhnliche, weil es herausragte, so dass das Gedächtnis ein Polaroid der Merkwürdigkeit machte, das man den Rest des Lebens ängstlich, begehrlich oder verwirrt anstarren konnte. Stella Kims Brustwarzen beispielsweise, so makellos und blaurot wie die in Farbe getunkten Spitzen von Ostereiern. An diese, ungewöhnlich bis ans Ende der Zeiten, erinnerte er sich. Santa Claus, an jenem Abend im 15th Street? Ungewöhnlich, unvergesslich, bewahrt. Die Spötteleien des toten Vetters Lenny über seine Briefmarkensammlung? Leicht, weil in ihrer geradezu brutalen Intensität ungewöhnlich. Umgekehrt – denkwürdig, weil dauerhaft – waren die »Penny-Sammelalben« des toten Vetters Lenny, die behördenblauen, steifen Ordner, in die Sergius brav drei Lincoln-Cents aus jedem Jahr eindrückte: einen unmarkierten aus der Prägestätte Philadelphia, einen mit einem S für die Prägestätte San Francisco und einen mit einem D für die Prägestätte Denver. Die Penny-Alben waren in der Wirklichkeit vertäut und schlugen eine Brücke zwischen Sergius’ Leben in New York und seinem Schlafzimmer in Pendle Acre, wo sie im Regal neben Ferdinand der Stier standen. Ein noch einfacheres Prinzip lautete also: Man erinnerte sich an das, was man behielt. Vielleicht erinnerte man sich auch an das, was man sich wünschte. Aber was man nicht behalten und sich sinnvollerweise auch nicht wünschen konnte, wurde vergessen.
Nach diesen Gesetzen vergaß Sergius seine Eltern.
Tommy und Miriam entsprachen nicht dem Standard für Unvergesslichkeit, weil sie erst dauerhaft gewesen und dann abgehackt wordenwaren. Seine Eltern waren eine Atmosphäre, die sich in den Weltraum verflüchtigte und keine Atemluft zurückließ.
Seine Eltern waren unbehalten. Im Gegensatz zu Ferdinand oder den Penny-Alben hatte Sergius sie nicht ins West House mitgebracht. Und er konnte sich nicht sinnvoll wünschen, die Toten würden auferstehen. Niemand, der nicht in Sergius’ Haut steckte, konnte je wissen, wie wenig sich irgendjemand jemals an irgendetwas erinnerte. Sergius sah die anderen Kinder mit ihren Eltern und dachte: Ihr seht, aber ihr erinnert euch nicht.
Solange man nonchalant unter Sterblichen weilte, merkte man nicht, dass man vergessen hatte, auf die RECORD -Taste zu drücken. Das sagte sich Sergius, wenn er sich quälte, sich schämte oder sich ganz einfach darüber wunderte, was für eine riesige emotionale Amnesie die ersten acht Jahre seines Lebens in Nebel hüllte. Seine geistigen Dioramen wurden vom Hörensagen konstruiert, aus Bemerkungen von Stella Kim oder anderen Kommunarden aus der 7th Street, aus Fotografien und seinen gequälten Nachbearbeitungen der wenigen stroboskopartigen Bilder, die im Gedächtnis aufblitzten: Filmfetzen eines Kinderhirns, die im Tumult dieser Demonstration oder jenes Protests
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