Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
gegen das Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste hängengeblieben waren, bei einer verregneten Mahnwache vor den Toren von Sing Sing oder dem benommenen Aufwachen, nachdem er die ganze Nacht auf der Regenjacke seiner Mutter in einer Ecke der Volksfeuerwache gedöst hatte, wo er im Halbschlaf mit den Händen immer nach den Enden eines über ihm aufgewickelten platten Feuerwehrschlauchs gehascht hatte. Aber in keinem Stroboskopblitz oder Filmfetzen gab es etwas von Tommy oder Miriam. Seine Eltern weigerten sich, in einem Rahmen aufzutauchen und sagten auch außerhalb des Rahmens nie eine Zeile. Sie existierten nur indirekt, waren in den Hintergrund geboxte Silhouetten.
Und dahinter der Weltraum des Selbst.
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Wenn die Toten tot und infolge gelöschter Erinnerungen unrekonstruierbar geworden waren, was konnte sich der Junge dann ernsthaft als Entschädigung wünschen? Ein Geheimnis.
An dem Tag, an dem Sergius vom Tod seiner Eltern erfuhr, schenkte Harris Murphy ihm jedenfalls eine Gitarre. Ein Sinnbild seines Vaters, sagte sich Sergius, obwohl sie wie seine Mutter einen Körper hatte, an dem er sich festhalten konnte. Auch Sergius selbst glich der Gitarre, war eine um eine Leere herum geformte Gestalt und weinte schnell. Der Prozess des Stimmens, das endlose Instrumentstimmen, das den Großteil seiner ersten Gitarrenstunde ausmachte und der zweiten und der dritten auch – Murphy ließ nicht locker, der Musiklehrer hatte die Gabe, Wiederholungen auszuhalten –, hatte für ihn mit nichts soviel Ähnlichkeit wie mit den stöhnenden Regenrinnenlauten, die sich in unregelmäßigen Abständen seinem Körper entrangen und deren unfreiwilliger Zuhörer er war. Sergius fragte Murphy, ob er die Gitarre behalten dürfe. Durfte er. Er konnte sie behalten, sie konnte nach oben in Sergius’ Zimmer mitkommen und abends dort bei ihm leben. Und so tat Sergius abends so, als müsse die Gitarre weinen. Die Weinkrämpfe waren sowieso eine Art Gnade. Wenn er um seine verlorenen Eltern weinte, war das wie seine Eltern selbst früher eine Stimmung, unspezifisch in ihrer Weite, ein Ozean, den man ganz vergaß, wenn man trocken aus ihm heraustrat.
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Dann wurde Sergius bekehrt. Wovon genau, hätte er nicht sagen können. Vielleicht von der Unschuld. Aber auch von zu vielen unangenehmen Erfahrungen. Er wurde von der passiven Chaosanalyse bekehrt, von seiner Familie und der Kommune und der Stadt, die sie umgab, und zu Murphys beiden Disziplinen bekehrt: Gitarre und Quäkertum. Verlangte der Rektor in den ersten Monaten überhaupt, dass Sergius zur Schule ging? Falls er im Unterricht gewesen war, konnte er sich nicht daran erinnern. Bei den Mahlzeiten saß er bei Murphy und denanderen Schülern, die dessen bußfertige und mönchische Weltsicht aufsaugten, während die verächtlichen Schüler der Highschool um sie herumtobten.
Der ganze Rest der Schule von Pendle Acre war dann nur Müll und Lärm, an den man keinen Gedanken verschwenden musste und in dessen Mitte Murphy mit seiner Gitarre in seinen Souterrain-Zimmern saß, in dessen Regalen die Bücher standen, aus denen der geläuterte Hippie ohne Erklärungen laut vorlas, bedeutsam dazu nickte, das Schweigen manchmal mit einer Frage brach oder wieder nach seiner Gitarre griff, während eine offene Tüte Salzbrezeln die Runde machte und nur zu, bedient euch. Murphys ganze Ausstrahlung, im selbstgewählten Reizentzug auszuharren, hing durchaus mit den allerorten geflüsterten Gerüchten zusammen, er hätte sich hundertmal öfter zugekifft als die schlimmsten Kiffer der Oberstufe mit ihren Led-Zeppelin-Jacken, und es war durchaus nicht zum Lachen, wieviele Gehirnzellen sich dadurch in alle vier Himmelsrichtungen verflüchtigt haben mochten. Hieraus bezog Harris Murphy seine stille Autorität. Seine Genesung von den Sechzigern, von der Welt jenseits der Mauern von Pendle Acre, entsprach dem Hinwegkommen des Achtjährigen über New York City und Tommy und Miriam, deren Leben so unauslotbar gewesen war wie ihr Tod. Es passte perfekt zusammen.
Sergius erwies sich dann nicht nur als Gitarrentalent, sondern drängte auch in die Gesellschaft der Freunde. Das vollkommene Quäker-Kind an einem Ort, wo ein gerüttelt Maß an Konkurrenz bestand. Die Andachten am Sonntag waren freiwillig – vielleicht damit man nicht das Gefühl bekam, als Wochenendheimfahrer könne man sich vor etwas drücken –, aber Dutzende tauchten auf, um sich irgendwie am Schweigen zu beteiligen, sich
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