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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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als Teil davon zu fühlen, jedenfalls war nichts von Verachtung zu spüren. Manche Kinder standen sogar auf, um Zeugnis abzulegen, bekannten sich zum Licht. Die Morgenandachten vor Unterrichtsbeginn waren obligatorisch und daher Routine – viele Schüler in Pendle Acre nutzten sie, um noch schnell die am Vorabend versäumten Hausaufgaben in ihre Hefte zu kritzeln. Beijeder erdenklichen Gelegenheit, morgens und sonntags, ließ sich das kleine Waisenkind von Pendle Acre mit wilder Entschlossenheit auf das Licht ein, denn niemand im Quäkertum hatte ihm je gesagt, dass das der falsche Ansatz war. Gemäß der Quäker-Logik, zumindest der, die er erst in der Sonntagsschule vom 15th Street und dann in Harris Murphys Paraphrasen kennengelernt hatte, konnte man es gar nicht falsch machen.
    Doch, eine Methode gab es vielleicht doch. Rund einen Monat nach dem Tod seiner Eltern verletzte Sergius versehentlich den Rat zur Mäßigung. Grund war, dass Murphy ihm ein Buch gegeben hatte – kein Quäker-Buch, oder jedenfalls nicht direkt, sondern nur, insofern die Quäker dieses traditionelle Faible für dunkelhäutige Völker und ihre indigenen Traditionen hatten: Der Tag der Toten – Mexikanische Mythen und Märchen. Vielleicht dachte Murphy an eine Entschädigung für die Kargheit der Quäker-Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, er gab dem bedauernswerten Jungen jedenfalls ein Buch, voll mit fröhlichen Skeletten, gütigen Geistern und Zombie-Ahnen, die meist nur missverstanden wurden und nicht mit bösen Absichten kamen. Die belebten Toten in den mexikanischen Geschichten waren von tröstend klobiger Art und stolperten durch ein drollig verstaubtes Universum, das sich nur unwesentlich von der Welt unterschied, in der diese Kleinbauern und Krämer verweilt hatten, bevor sie begraben worden waren. Außerdem schien das Buch Sergius zu sagen Deine Eltern sind südlich der Grenze verschwunden – sie sind in der spanischen Zunge gestorben . Vielleicht sollte das Buch ihm also auch offenbaren, wohin genau es sie verschlagen hatte.
    Ein paar Wochen lang hatte Sergius das Buch immer dabei, es war sein neuer Ferdinand. Er hatte die Geschichte eines gewissen Pedro herausgegriffen, dessen großer Bruder von einem Esel gefallen und gestorben war. Auf Pedros Bitte hin war der große Bruder mit einer Art Kamin oder Sprechrohr bestattet worden, das aus dem Grab ragte, damit er von der anderen Seite berichten konnte. Und so ging Pedro treu und brav Tag für Tag auf den Friedhof, unterhielt sich durch dasRohr mit seinem toten Bruder und besprach weltliche und prosaische Angelegenheiten: Regenwürmer, Ernte, Aussicht auf Regen und das ironische Schicksal des Esels, von dem der Bruder gestürzt war – er war in einen Krieg verkauft worden, dem der Bruder durch seinen Tod entkommen war und der Pedro nun erspart blieb, weil in der Gegend die Regel galt, dass keine Familie beide Söhne verlieren sollte.
    Drei Wochen in Folge brachte Sergius das Buch über Mexiko zur Sonntagsandacht mit, und nach einer gewissen Stillephase und ein paar spontanen Zeugnissen von Lehrern oder auch älteren Schülern stand er auf, räusperte sich und verlas die Passage über Pedro am Grab. Seht ihr, wollte er damit besagen, es ist okay. Die Toten sind noch bei uns. Und ich bin okay. Ihr müsst kein Mitleid mit mir haben.
    Nachdem er die Geschichte am ersten Nachmittag in die Stille hinein verlesen hatte, erstickte man ihn fast mit Gratulationen. Das Vorlesen aus einem Buch war vielleicht nicht gerade das Standardverfahren spirituellen Zeugnisablegens, aber wenn sich ein Achtjähriger bei der Andacht überhaupt melden konnte und dann auch noch in Sergius’ besonderer Situation – wow! Murphy nahm ihn beiseite und drückte ihm die Hand, was wohl zu erwarten gewesen war, aber es kamen auch Lehrer zu ihm, die er kaum kannte, der Rektor und sogar ein paar von den großen Mädchen. Sergius war plötzlich ein kleiner Star, ein heiliges Beispiel dessen, wofür Orte wie Pendle Acre standen.
    Also las er die Passage am Sonntag darauf noch mal.
    Diesmal erntete er hinterher nicht so viele Kommentare, und so begeistert waren sie auch nicht. Murphy klopfte ihm bloß auf den Rücken und schlug vor, an ein paar Gitarrengriffen zu arbeiten. Aber warum auch Gratulationen verlangen? Sergius war kein Spielball und kein Novum mehr, sondern ein habitueller Hüter des Lichts. Er fand Pedros Geschichte beim zweiten lauten Lesen genauso profund wie die Dutzende von Malen, wo er sie

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