Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
leise und für sich gelesen hatte. Ihr Sinn weitete sich eher noch aus. Der Tod ist kein Drama! Das sollte ihnen genauso ins Bewusstsein dringen wie ihm.
Als Sergius die Passage den dritten Sonntag in Folge vorlas, lud derRektor ihn hinterher zu einem Spaziergang ein und erteilte ihm eine Freundliche Lektion über Mäßigung in allen Dingen.
Am Nachmittag suchte Sergius Murphy in seinen Zimmern auf, um ihm das Buch über Mexiko zurückzugeben.
»Du kannst es behalten, Sergius.«
»Ich möchte es nicht mehr.«
»Bist du sicher?«
Sergius warf das Buch auf Murphys Sofa. Es widerte ihn plötzlich an. Kein Kind hatte ihn verspottet, weil er in der Andacht gesprochen hatte, dabei wusste er genau, dass sie einander immer aufzogen, wenn einer der unausgesprochenen Erwartungshaltung nachgekommen war. Kein Kind hatte ihn darauf hingewiesen, dass er nicht durch ein Rohr im Boden mit seinen Eltern sprechen konnte, so wie Pedro mit seinem Bruder sprach. Niemand tadelte ihn, nicht einmal der Rektor, und deshalb war Sergius sicher, dass ihm auf Schritt und Tritt nichts als Mitleid entgegenschlug. Durch das Mexiko-Buch und vielleicht auch durch Murphy war er der Gelackmeierte.
»Ich will, dass die, die sie umgebracht haben, sterben.«
»Das verstehe ich«, mauerte Murphy.
»Ich will sie umbringen.«
Sergius sprach hinter einer Maske heißer Tränen, aber es war nur eine Maske: Er musste nur akzeptieren, dass er eine trug, weil er den Schnodder spürte. Wenn er jetzt ein Gewehr hätte, würde er Murphy erschießen, auch weil der ihn mit dem Schamgefühl des Quäkers angesichts seiner Gewalttätigkeit erfüllt hatte. Dass das Buch harmlos auf die Sofakissen gefallen war, dass die Männer, die Tommy und Miriam ermordet hatten, unfassbar weit weg waren, dass seine Killerseele in der schwächlichen Hülle eines Achtjährigen steckte, nichts davon konnte seine Wut besänftigen. All das verstärkte sie nur.
Murphy sah, was sich vor seinen Augen abspielte, und hatte wohl das Gefühl, er müsse einen Test bestehen.
»Der Krieg des Lamms«, sagte er.
»Was soll das heißen?«
»Setz dich mal hin, ich les dir was vor.« Murphy war wie immer blitzschnell mit den Linderungsmitteln bei der Hand, und ehe er’s sich versah, hatte Sergius einen Teller Grahambrot und ein Glas Milch vor sich stehen – hatte ihn das schon erwartet? Auch die Stelle im Buch, das er jetzt aus dem Regal zog, hatte er sofort parat, als hätte er die Lesung für Sergius vorbereitet und sich schon gedacht, dass er das brauchen würde. Und die Jalousien vor den Souterrainfenstern waren schon herabgelassen, also würde sich auch kein anderer von Murphys Lieblingsstudenten bücken und an die Scheibe klopfen.
» ›Gott hat seine Geschöpfe aus seinem Ruf und Dienst entlassen, und seither nutzen seine Geschöpfe die Schöpfung gegen den Schöpfer. Gegen diese böse Saat führt das Lamm Krieg und übt Vergeltung an seinen Feinden.‹ Das bist du, Sergius. Der Krieg des Lamms – den führst du .«
»Was ist das? George Fox?« Sergius hatte noch nie gehört, dass Murphy die Wörter böse oder Vergeltung in den Mund nahm.
»Nee. Das ist ein anderer früher Freund, ein Mann, den ich noch nicht erwähnt hatte, James Nayler. Nayler fing als Soldat an, war ein streitlustiger Mann, und als er Fox kennenlernte und anfing, durch England zu ziehen und vom Licht zu predigen, kam er ins Gefängnis, und man stieß ihm einen glühenden Schürhaken durch die Zunge. Aber hör zu: ›Da das Lamm nicht gegen Menschen zu Felde zieht, sind auch seine Waffen nicht von fleischlicher Art und fügen der Schöpfung kein Weh zu; denn das Lamm ist nicht gekommen, um der Menschen Leben zu vertilgen … sein Harnisch ist das Licht, sein Schild Glaube und Geduld … so ziehet es hin und hält rechtschaffenes Gericht, führt Krieg gegen seine Feinde nicht mit Peitschen und Kerkern, foltert und quält nicht die Leiber der Geschöpfe, sondern mit dem Wort der Wahrheit, es geht ins Gericht mit dem Kopf der Schlange und deckt den eigenen mit seiner Liebe …‹ «
Während Murphy weiter leierte und Sergius zuhörte, während seine Maske verdunstete und auf Wangen und Ärmeln, wo er sie von der Oberlippe abgewischt hatte, trocknete und verkrustete – Murphy hatte es besser gewusst, als Sergius in seinem Stolz zu kränken, indem er ihm ein Taschentuch anbot –, während Sergius seine Bauchschmerzen mitzerkautem Grahambrot und Milch beruhigte, verstand er nach und nach, dass Murphy ebenso
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