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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Sergius brauchte Jahre, um zu begreifen, dass das Beruhigendste an Harris Murphy irgendwie auch etwas Schreckliches war: Man glaubte ihm nur allzu bereitwillig, wenn er sagte, er liefe nicht Gefahr, aus der Briefmarkenwelt von Pendle Acre zu verschwinden.
    —
    Auf der Fahrt nach Philadelphia aß Sergius im Wagen des Rektors Doughnuts aus einer Tüte und hörte auf einem Achtspurband Anatevka. Es hörte überhaupt nicht mehr auf.
    —
    Bevor sie in den Verhandlungssaal gingen, kam es in einem angrenzenden Büro zu Sergius’ Wiedersehen mit Stella Kim. Der Rektor trat diskret beiseite, als Sergius und die Busenfreundin seiner Mutter sich lange umarmten. Der Junge wurde von Erinnerungen an Babysitternächteüberflutet, und Stella Kim roch zugleich nach Miso-Paste, Pot und Patschuli. Die Duftmischung ließ ihn aber nur ein Stück in der Zeit zurückreisen; Stella Kim war zwar in einem türkisen Trainingsanzug hergekommen, der für Sergius kein bisschen zu ihr passte, er hätte aber auch nicht mehr sagen können, wie sie sich denn typischerweise gekleidet hatte. Er feuchtete den türkisen Stoff mit ein paar verwirrten Tränen an. Stella Kim wusste anscheinend genau, wie lange sie ihn festhalten musste, und dann gingen sie alle drei gefasst zum Richter hinein. Der Gerichtssaal entsprach nicht Sergius’ Vorstellungen, sondern war eher ein großes, ödes Büro, und auch der Richter entsprach nicht seiner Phantasie, trug keine Robe und hatte keinen Richterhammer. Er trug einen Anzug, war kahl, hatte graue buschige Augenbrauen und saß auch nicht über ihnen auf einem Podium oder Hochsitz, sondern blätterte an einem Konferenztisch in einem Aktenordner.
    Stella und der Rektor zogen Stühle heran, setzten sich und bedeuteten Sergius, zwischen ihnen Platz zu nehmen. Er setzte sich. Am Tisch saß noch ein Fremder, der nicht aufstand, nicht vorgestellt wurde und, genau wie Stella und der Rektor, kaum ein Wort sagte – der Richter wünschte das nicht. Er stellte von vornherein klar, dass die anwesenden Erwachsenen seine Besprechung mit dem in Rede stehenden Kind stumm vom Spielfeldrand aus zu verfolgen hatten, auch wenn er dann eine ganze Reihe von Sachen vorbrachte, die eindeutig für ihre Ohren bestimmt waren. »Ich bin konsterniert, ähem, angesichts einer erschreckenden Anzahl von Unregelmäßigkeiten im Vorfeld dieses Verfahrens, zuvörderst dem schlichten Umstand, dass es bei der Einhändigung relevanter Unterlagen und eidesstattlicher Versicherungen bei Gericht zu Verzögerungen kam. Andererseits zeichnet sich dieser ganze, äh, Sachverhalt von Anfang an durch verwirrende Verzögerungen seitens der Klägerin aus.« Für Sergius waren diese ganzen großen Wörter ein rätselhafter Klumpatsch. Die Tonlage ließ ihn allerdings ahnen, dass er sich hier der lange gefürchteten monolithischen Autorität gegenübersah, gegen die ihm schon früh eine lebenslange Trotzhaltungeingeimpft worden war. Er war nämlich sicher, dass dieser unscheinbare Richter ohne Robe Stella Kim, den Rektor und ihn gleich zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilen würde. Danach würde man sie in den Todestrakt sperren, und vor den Gefängnistoren würden Mahnwachen abgehalten, in denen sie die Philadelphia Three genannt wurden. »Hinzu kommt der eigentümliche Aspekt der Jurisdiktion, zumal, ähem, die seit 1973 geltende Doktrin der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls, die hier ebenso anzuwenden ist wie in New York, und da die Klage bei der Polizei von Philadelphia eingereicht wurde, wird es nach Rücksprache mit den entsprechenden Stellen in New York für angemessen erachtet, dass die hiesigen Stellen ausreichen, um ein abschließendes Urteil zu formulieren –« Und all das war nur eine Vorbemerkung zur Besprechung mit dem in Rede stehenden Kind, die letztlich auf eine einzige Frage hinauslief.
    »Würdest du mir bitte bestätigen, dass du Sergius Valentine Gogan bist?«
    »Sergius?«, hakte Stella nach, was ihr einen stechenden Blick des Richters eintrug.
    »Ähm, ja.« Seinen zweiten Vornamen hatte Sergius schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Nach Fremder in einer fremden Welt, fiel ihm wieder ein.
    »Verstehst du, dass deine Eltern nicht mehr, ähem, am Leben sind?«
    »Ja.«
    »Ich werde eine Entscheidung treffen, Sergius Gogan, und ich bitte dich nicht, sie mir abzunehmen, aber deine Meinung spielt dabei gemäß der bereits erwähnten Doktrin von 1973 eine gewisse Rolle. Verstehst du?«
    »Ja.« Nein.
    »Junge, möchtest

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