Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
für sich selbst las wie für seinen Schützling. Das merkte er Murphys Vertrautheit mit den Passagen an, daran, wie er von einer Seite zur nächsten springen konnte, Naylers Worte neu zusammenstellte, um seine Sache zu begründen, und werweißwas ausließ, was Sergius auch gar nicht wissen wollte. Es war egal, denn Sergius sah und verstand, dass der Lehrer das Buch nicht für den Schüler vorbereitet hatte, sondern seinen eigenen Lammskrieg vor Sergius ausbreitete. Und auch Murphy hatte seinen Krieg nicht geführt und gewonnen – er kämpfte immer noch, kämpfte jeden Tag, das war seine Botschaft. Murphys Stimme war hypnotisierend, wenn man die Augen schloss, und auch wenn nicht, und Sergius schloss seine nicht, war hypnotisiert davon, wie sich unter der verzerrten Narbe, die kein noch so dichter Bart verbergen konnte, dieser elegante Tenor bildete. Die Hasenscharte war Beweis genug für seinen Krieg des Lamms, sie war seine Schlangennarbe, vielleicht auch selbst eine in sein Fleisch eingebettete Schlange. Hier begegnete man dem Licht: Es konnte überall und jederzeit erscheinen. In diesem Augenblick hielten Murphy und er in diesem Souterrain eine Andacht zu zweit ab.
Dann stellte Murphy Naylers Buch ins Regal zurück, bot nicht mal zum Schein an, es ihm auszuleihen, und Sergius wusste, dass sehr viel Zeit vergehen würde, bevor er bei einer Andacht wieder den Mund aufmachte, und sollte er es irgendwann tun, würde er nicht aus einem Buch vorlesen, sondern ein wahres Zeugnis ablegen, so wie Nayler, ein grässliches, krasses Kommuniqué von einer weit entfernten Front des Kriegs des Lamms.
Dann sagte Murphy: »Wollen wir ein bisschen Gitarre spielen?«
—
Anfang Juni dünnte Pendle Acre aus, und im Sommersemester blieb nur ein kleines Häuf lein Schüler. Die meisten davon waren die Highschool-Hippies, die Gemüse angepflanzt hatten, nicht wollten, dasses vertrocknete, und sich deshalb für Intensivkurse in Französisch oder Deutsch einschrieben, obwohl sie sich gar nicht ernsthaft für den Fremdsprachenerwerb interessierten und in den Sommerkursen auch kaum je auftauchten. Auch über die Hälfte der festangestellten Lehrer verduftete und hinterließ nur eine Rumpfmannschaft – Murphy blieb allerdings. Drei Monate, nachdem Sergius vom Tod seiner Eltern erfahren hatte, drängte sich dem Jungen immer stärker eine Frage auf, bis er sie irgendwann nicht mehr unterdrücken konnte.
»Gehe ich nach New York City zurück?«
»Nur wenn du möchtest.« Murphy sprach und griff dabei Akkorde, die an etwas erinnerten – einen Song von Bob Dylan? –, was Sergius aber nicht genau einordnen konnte. »Möchtest du jemanden besuchen?«
»Nein, ich meine, geh ich hier auch nächstes Jahr zur Schule?«
»Na klar.«
»Aber wie –«
»Die New Yorker Jahresversammlung und 15th Street haben dir ein Vollstipendium zugesprochen, aber auch wenn du keins hättest, käme es für Pendle Acre überhaupt nicht infrage, dich wegzuschicken, Sergius. Du brauchst dir um nichts Sorgen zu machen.«
Es war nicht Murphys Art, ihn zu unterbrechen. Und sonst rückte er ihm auch nicht mit Vernehmungstricks auf den Leib, wie jetzt, während er weiter Akkorde plinkerte. » Möchtest du New York City denn besuchen?«
»Ich weiß nicht – vielleicht.«
»Und wenn, wen möchtest du dann besuchen?«
Sergius zuckte die Schultern, wusste nicht, was die beste Antwort war. Er wusste nicht, welchen Namen auf seiner kurzen Liste er als ersten nennen sollte.
»Erinnerst du dich an Stella Kim?«
»Klar.« Das war einer der Namen.
»Pass auf, das wollte ich dir sowieso schon sagen. Stella möchte dich sehen, und nächste Woche schicken wir dich nach Philadelphia zu ihr.«
»Warum nicht nach New York City?«
»Später vielleicht, aber du musst in Philadelphia etwas für uns erledigen, und Stella begleitet dich und hilft dir dabei. Wir möchten, dass du mit einem Richter redest, nur ein paar Minuten lang, weil du dann leichter hier bei uns bleiben kannst, okay? Das muss nur dies eine Mal sein.«
Murphys wir und uns wirkten wie eine Schraubzwinge auf Sergius’ hundert Fragen. Eine brachte er immerhin heraus: »Kommen Sie mit?«
»Würd ich gern, Sergius, ehrlich. Aber der Rektor bringt dich hin, und hinterher warte ich hier auf dich.«
»Okay.«
»Du musst nur sagen, dass du wieder hierher zurückkommen möchtest.«
»Okay.«
»Eins kannst du mir wirklich glauben, Sergius, und das ist, dass ich hier nicht weggehe, okay?«
»Okay.«
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