Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
du bei deiner Großmutter Rose Zimmer in New York City leben, oder ziehst du es vor, weiterhin unter Vormundschaft der Schule Pendle Acre zu bleiben?«
Gegen Ende jenes Sommers hatte sich Sergius’ Radius über das West House hinaus und von Murphys Tisch auf die ganze Mensa erweitert. Der geschrumpfte Bestand der als Sprachenschüler verkleideten Gemüsehippies zog ihn in seinen Bann – der hüttenartige Aufenthaltsraum mit den gebatikten Vorhängen im East House, die Reihen der sonnenverbrannten, nach Seide stinkenden Maisstauden, der Feuerkreis draußen hinter den Lagerschuppen. Unter Extremumständen wie diesen konnte ein kleines Kind anscheinend als ihresgleichen aufgenommen werden; das Übergewicht der leeren Schlafsäle schweißte die Zurückgebliebenen als Überlebende zusammen wie auf einer einsamen Insel. Trotz dreier anständiger Mahlzeiten und den vergleichsweise vornehmen Anlagen von Pendle Acre war die vorherrschende Grundstimmung doch eine des Ausharrens im Schützengraben, der Abkommandierung an die Front gegen einen unbekannten Feind. Zigaretten und Hormone mochten der gemeinsame Nenner sein – oder der Fluchtpunkt, an dem die Gegensätze zusammenfielen. Besonders am Feuerkreis, wo sie Gestrüpp als Zunder nahmen, Abfallholz in die prasselnden Flammen warfen und dann hypnotisiert auf den Polstern aus Kiefernnadeln und zertretenen Zigarettenstummeln standen, huldigten die Teenager allabendlich der sie verbindenden Weltabgeschiedenheit. Die Aufnahmepolitik der Schule amalgamierte seltsamerweise privilegierte Kinder, die seit ihrem ersten Tag im Country-Day-Kindergarten an für ein privates Internat vorgesehen waren, und »leistungsgestörte« weiße Kinder aus den Städten, deren Eltern von Älteren wie denen im 15th Street beraten worden waren, ihre Kinder in ein Refugium der Quäker zu schicken. Noch seltsamer war, dass diese verschiedenen Bestandteile miteinander klarkamen, weil die blauen Flecken an ihren Seelen hier draußen im Wald nicht zu unterscheiden waren.
Die Teenager hatten noch einen anderen Treffpunkt, die drei Fußmarschkilometer entfernte »Stadt« East Exeter, die aus einer Pizzeria mit Jukebox, zwei Tankstellen zum Zigarettenholen und einer kleinen Videospielhalle bestand, aber für Sergius waren Ausflüge dorthin tabu.In Ordnung, er hatte kein Bedürfnis, Pendle Acre zu verlassen. Für ihn war schon der Feuerkreis überraschend weit weg. Im Feuerschein bildeten die Schuppen eine Schattenwand und ergänzten die von den dichten, unwegsamen Wäldern markierte Grenze. So formte der Feuerkreis ein winziges Reich, in dem man die Kindheit hinter sich lassen, gleichzeitig aber der Erwachsenenwelt, Millionen von Kilometern weit weg, sicher widerstehen konnte. Eines Abends hielt ein Kiffer Sergius die Hand hin und zeigte ihm einen halb gerauchten, glühenden Joint. »Hey, Serge, du bist nicht zufällig Murphys Spitzel, oder?«
»Nein.«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte ein anderer.
»Hey, Mann, man wird doch noch fragen dürfen.«
—
Für den Fall, dass Sergius einen Beweis brauchte, dass er für die Geister von Alphabet City oder Sunnyside nicht bereit gewesen war, inszenierte der Musiklehrer eine abrupte und fürchterliche Demonstration für ihn. Eines Tages gegen Ende jenes Sommers stopfte Murphy ein paar saubere T-Shirts und Socken von Sergius in einen Rucksack, und die beiden stiegen in einen Zug. Sergius schlief ein, was zur Folge hatte, dass er das Gefühl hatte, sie wären nur fünfzehn oder zwanzig Minuten unterwegs gewesen, als er in Penn Station schon wieder in schlaftrunkener Benommenheit ausgespien wurde. Murphy nahm Sergius an die Hand, schlängelte sich durch das Pendlergewimmel zu den Drehkreuzen der Subway und suchte unten den Bahnsteig Richtung Innenstadt. Und bevor Sergius noch widersprechen konnte, gingen sie schon wieder die Treppe zur 7th Street hoch.
Als sie aus der Helligkeit des Augustabends ins Haus kamen, navigierte Sergius zunächst blind und stürzte aus der hart erarbeiteten und hauchdünnen Illusion seines neuen Lebens in eine Vergangenheit der Sinne zurück, von der er nichts wissen wollte. Stella Kim hatte ihn wieder mit all ihren Gerüchen – Miriams Gerüchen – in die Armegeschlossen. Irgendwo übte ein Musikinstrument Tonleitern – eine Querflöte, wenn er sich nicht irrte. Sergius wand sich los und suchte etwas Festeres, den unteren Absatz der Treppe, an deren Geländer er früher immer einfach nach unten geglitscht war: eine berauschende
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