Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
wie die Erde bei ihrem Wetter war.
Und an dem Punkt setzte Ciceros Tirade ein.
»Und nicht nur ich, Sergius. Ganz Sunnyside hat Rose gehasst. Außer deiner Mutter konnte niemand ihr auch nur im geringsten die Stirn bieten. Aber die Vorwürfe deiner Mutter erstarben in Roses Schweigen, erstarben, bevor der Hörer wieder auf der Gabel lag. Ich habe sie als wehrloses Kind kennengelernt, und meine Zunge war zerbissen,noch bevor ich wusste, dass sie zum Reden da war. Ich musste weg, um zu lernen, wie man den Mund aufmacht, aber wenn sie jetzt vor mir stünde, könnte ich wahrscheinlich wieder nicht Tacheles reden. Denn mach dir da nichts vor: Bei Rose ging es immer um Macht. Die Macht des Ressentiments, die Macht der Schuld, die Macht der ungeschriebenen einstweiligen Verfügungen gegen alles und jeden und vor allem gegen das Leben selbst. Rose stand auf den Tod, Sergius! Das hat sie doch an Lincoln so angemacht, auch wenn sie das nie im Leben zugegeben hätte. Er hat unsere schwarzen Ärsche befreit und ist gestorben! Rose schmeckte die Freiheit nur, wenn es als Beilage Tod gab. Im Grunde ihres Herzens war sie ein Tundrawolf, eine darwinsche Kreatur, die von Heimtücke und Abfällen lebte. In jedem Zimmer hielten sich Feinde auf, jedes Zuhause war halb voller Spione, oder mehr als halbvoll. Wenn du einen Namen erwähnt hast, den sie noch nie gehört hatte, kam wie aus der Pistole geschossen ihr › Wer? ‹ Und das hieß, wenn es ihr nützen konnte, den Betreffenden zu kennen, warum war er dann nicht längst Teil ihrer Organisation? Und wenn er keinen Nutzen hatte, warum sollte man ihm dann trauen? Warum ihn überhaupt erwähnen? Sie wollte die Welt befreien, aber sie versklavte jedes arme Würstchen, das sie in die Krallen bekam. Und jetzt geh nach Philly zurück und schreib da einen Song drüber.«
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Das Problem seiner Tirade war, dass die Zeit ihr wie bei einer von der Sonne ausgetrockneten Traube die strukturierende Haut abzog, während er sich noch in ihr erging. Das so drückend verlässliche Jetzt löste sich auf. Cicero hatte diese Kunst im Seminarraum zu gut gemeistert, spulte seinen Ärger ab und filibusterte jede andere Stimme, indem aus dem Stegreif formulierte Wendungen in einer Art Zeugungssturm ihresgleichen hervorbrachten, während er in Gedanken abschweifte.
Was in diesem Fall nach Abziehen der Haut von der Traube übrigblieb, war der Herzschlag einer somatischen Erinnerung, eines Augenblicks,der irgendwo in Ciceros Körper ununterbrochen nachgespielt wurde: Eine titanisch willensstarke Frau von vierzig Jahren und ein paar Zerquetschten umklammerte die Hand eines pausbäckigen, verwirrten afroamerikanischen Jungen, der erst sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein mochte, als sie ihn auf die erste von Hunderten ihrer Runden mitschleifte. Rose Zimmer, die Geliebte seines Vaters. Sie preschte mit ihm über die Gehwege von Sunnyside – Greenpoint Avenue, Queens Boulevard, Skillman Avenue –, während sie ihren Weg entlang spionierte, tratschte, verhörte, halblaute Kommentare abgab, das Raster unsichtbarer Hierarchien im Kopf mit dem Straßennetz überblendete, mit der scheinbar unverfänglichen Anordnung spärlich besetzter Parkbänke und Friseurläden, mit den Menschen, die sich mit ihren Einkaufswagen so langsam voranschoben, als wären sie festgefroren. Auf dieser moralischen Weltkarte, die jede andere überschrieben hatte, erwachte der Junge zum Bewusstsein. Sein Dasein verschaffte ihm Zugang zu Roses Vertrauen, zu ihrem bereitwilligen Glauben, er könnte ihr Speicher werden: die erste Ahnung seiner eigenen Komplexität. Die Tatsache, dass sie sich an der Betroffenheit und Entrüstung weidete, für die seine Gegenwart an ihrer Seite sorgte, die absonderliche Rekrutierung des schwarzen Jungen als rechte Hand der rechtschaffenen, geschiedenen, jüdischen, Kommunistin: die erste Ahnung seiner eigenen Unverfrorenheit. Sie beide setzten Sunnyside in Brand, gingen dann in Roses Lieblings-Eisdiele – deren Verkäufer und Stammgäste sie genauso verabscheuten wie der Rest der Welt – und versüßten sich den Tag mit Malzkakao. Nachdem sie sich dann noch mit Comics und Pall Malls eingedeckt hatten, lieferte sie ihn zu Hause ab.
So tief hatte sich Rose in Cicero eingenistet: In den unterworfenen und unveränderlichen Korridoren seines Geistes gab es eine Oase, einen Mikrokosmos, in dem sich sein heutiges Bewusstsein mit ihr austauschen konnte und frischen Zugang zu dem durchdringendsten Intellekt
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