Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
wenn ihr danach war. Rose, deren Revier die Paranoia war, pirschte durch Sunnyside wie durch einen Zookäfig. Rose schrieb die Punktzahl auf. Ressentiments waren ihr Treibstoff.
Auch Cicero war schon ein Kenner; er kannte die Stile weiblicher Macht.
Dim Sum war, zumindest so, wie Miriam es Cicero an diesem Nachmittag vorstellte, einfach chinesisches Soul Food. Sie überging die Schalen mit den heikler aussehenden Delikatessen, rosa Schoten wie Salzwassertoffees, Garnelen in glänzender durchsichtiger Verpackung, zugunsten eines fettfleckigen weißen Beutels, der, wie sich herausstellte, kleine Stücke gegrilltes Schweinefleisch enthielt, das sich in weißen Teigklößen versteckte, so groß, so zart und so köstlich wie die Brötchen von Ciceros Mutter. Jeder Kloß enthielt auch einen leckeren Spritzer Grillsauce, was einen heimlich reizte, ihn mit einem Happen zu verschlingen; so mochten die Apollo-Astronauten Gegrilltes auf die Reise mitgenommen haben. Gemeinsam griffen Miriam und Cicero wieder und wieder in den weißen Beutel, als wäre er unerschöpflich, schlängelten sich über Gehwege, die von den Ständen der Straßenverkäufer verengt wurden, die undefinierbare Gemüsesorten und schielende Fische in Tanks feilboten, und machten Spreizschritte über die Däumlingsfrauen mit ihren Karren hinweg. Miriam kaute und redete. Cicero kaute und lauschte. Als der Beutel leer und ihre Backenzähne teig- und fleischbröckchenverklebt waren, machte Miriam einen verstaubten jüdischen Delikatessenladen ausfindig, der sich zwischen all den Exotika versteckte, und kaufte ihnen zwei kondenswasserbetaute Flaschen Orange Crush zum Nachspülen.
Während dieser Schlemmerei brach irgendwann der Damm, und Ciceros letzte Zurückhaltung wurde fortgeschwemmt. Er war verliebt. Cicero fand Frauen nicht sexy, aber Miriam war eine Ausnahme, nicht wegen ihres Körpers, sondern wegen ihres Appetits: Sie verschlang die reifen Früchte der Welt. Er verliebte sich in die Details von Miriams Ausschmückungen. Ciceros neues Idol hatte ein Händchen dafür, etwas, wovon er noch nie gehört hatte, auf eine Art und Weise darzustellen, dass er sich sofort nach genau diesem Leben sehnte: Würde der Planeten, Che Guevara, McSorley’s, Falafel, Eldridge Cleaver, Haschisch, The Fugs, Ramblin’ Jack, Dim Sum.
Das Huhn war wirklich ein Huhn. Auf der Mott Street, im Gedränge um den Eingang zu etwas namens »Chinatown Museum« –einem Innenhof mit Besucherattraktionen, der so baufällig und reizlos war wie der letzte Amüsierbetrieb auf Coney Island und selbst bei Tageslicht verdächtig aussah – stakste und pickte in einem dekorierten Schaukasten, der aus den Schatten an den Gehwegrand geschoben worden war, eine schmutzig weiße Henne herum. »Das ist Clara«, sagte Miriam. »Sie wird dir die Zukunft weissagen. Im Vergleich zu Sylvia de Grace spottbillig.« Miriam kaufte bei Claras schweigendem Hüter, diesmal einem männlichen Däumling, einen Chip und schob ihn in den Schlitz. Ein melodiöses Bimmeln ertönte, Clara die Henne verfiel in einen Derwischtanz, pickte an einer von mehreren Laschen in ihrem Käfig, ein paar Körner rieselten auf den Boden des Vogelbauers, und Miriam fiel eine Karte mit chinesischen Symbolen und englischen Wörtern in die Hand. »Bitte schön!«, sagte Miriam. »Soll ich’s dir vorlesen?«
Hatte sie am Ende Angst, er könnte nicht lesen? Cicero, der in den Geheimkammern seiner Persönlichkeit so wachsam und versiert war, so eingeschworen auf den Pfad der Unsichtbarkeit, war manchmal gleichwohl verblüfft darüber, wie einseitig seine Tarnung als fetter schwarzer Junge funktionierte: Im Ernst? Glaubst du vielleicht, ich würde nicht beobachten, urteilen, wünschen und Pläne für die Verwirklichung meiner Wünsche schmieden? Cicero hatte das Gefühl, in den Augen mancher Leute hätte er nicht mehr Anteil am Lauf der Menschheit als eine an einem Laternenpfahl festgebundene Bulldogge oder eine über den Himmel ziehende Wolke, die kurz eine unterhaltsame Gestalt annahm. Aber nein. Er atmete tief durch. Darum ging es hier nicht. Miriam schlug ihm nur vor, dass sie das Orakel spielte und bei dem bisher vereitelten Plan, Cicero heute seinen weiteren Lebensweg zu entschleiern, die Rolle von Sylvia de Grace übernahm.
»Ja«, sagte er. »Lies vor.«
Sie schob das Kärtchen in die Tasche. »Mach ich, aber nicht hier. Ich hab ’ne bessere Idee. Hattest du schon mal ’ne Vanillemilch bei Dave’s?«
Diesmal lautete die
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