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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Ciceros Eitelkeit als Schachspieler. Der Salon dieser falschen Französin, der in dieses Backsteinlagerhaus voller Maler-Lofts gepackt worden war, steckte voller guter Informationen, war eine Höhle der Exotika, die Patschulitäuschung eines kultivierten Erwachsenendaseins, die er dem Bild einverleiben konnte, dem er irgendwann auch sich selbst einverleiben würde. Aber das hatte keine Eile.
    Viel banaler war jedoch, dass Cicero esoterischen Scheiß wie Astrologie nie auch nur eine Sekunde lang hatte ernst nehmen können. Das war schon der Fall gewesen, bevor Roses Einfluss ihn erreicht hatte, ihre materialistische Weltsicht, gegen die, wie er annahm, MiriamsTendenz zur eher heidnischen Astrologie Sturm lief. Dass Cicero sich fühlte, als sei er unter einem Unstern geboren , hatte für ihn nichts mit Widdern, Fischen oder Wasserträgern zu tun. Er hatte für seine Identität nicht noch eine Schicht nötig.
    Astrologie fiel für ihn in die Klasse der Kunstlügen, an die viele ihrer Verfechter selber gar nicht glaubten – nicht nur Miriam offenkundig, sondern wahrscheinlich sogar Sylvia de Grace – und für die die Entlarvungsmaschine, mit der Cicero an Stelle eines Gehirns geboren worden war, gar nicht angeworfen werden musste. Seine Fähigkeiten waren Lügen vorbehalten, auf die es ankam. Ideologien, auch wenn er den Begriff damals noch nicht kannte: der Schleier der Lebenslügen, die die Welt am Laufen hielten und die die Menschen glauben mussten. Diese Selbsttäuschungen wollte Cicero enttarnen und entschleiern, verwerfen und vernichten. Nur – noch nicht.
    Lügen dieser Art gab es wie Sand am Meer. Cicero selbst hatte ein paar ausgestreut wie etwa mit dem Anziehen der Mets-Warmup-Jacke. Denn während ein erwachsener Hippie des Jahres 1969 sich Sorgen um sein Sternzeichen machte, musste sich ein minimal funktionsfähiger pubertierender Jugendlicher an der Sunnyside Intermediate, egal ob schwarz oder weiß, bei zwei anderen Götterkonstellationen entscheiden. Schnell: Wer war dein Lieblingsspieler bei den Mets? Und wer dein Lieblings-Apollo-Astronaut? Cicero hatte seine Antworten parat, wenn auch aus den falschen Gründen. Für einen Weißen hatte Tom Seaver wunderschöne Schenkel und einen Prachtarsch. Nach Ciceros Erfahrung waren es oft die Pitcher der Anfangsaufstellung, die seine Lieblingsproportionen mitbrachten. Seine fetischisierende Analyse von Bewegungsablauf und Wurf eines Pitchers rechtfertigten zahllose Stunden aktiv wollüstiger Phantasien, ob in Sichtweite seines Vaters, der den Sportteil der Herald Tribune las, ob beim Tausch von Baseball-Karten mit den Klassenkameraden oder wenn er auf Roses geliebtem Farbfernseher Tom Terrific werfen sah. Seaver wurde dafür gefeiert, wie er kurz vor dem Abwurf den Fuß anhob, für die Kniebeuge bis zum Sand am äußersten Punkt seiner Wurfbewegung undfür die Dreckspuren, die der Pitcherhügel auf seinem Trikot hinterließ. Wenn sich die Schenkel des Pitchers zur Erde senkten, wäre Cicero gern der Hügel gewesen.
    Ihre Raumanzüge waren zwar nicht annähernd so schmeichelhaft, aber bei Astronauten – Buzz Aldrin – folgte Ciceros Geschmack ähnlichen Kriterien.
    »Scheiß drauf, jetzt lassen wir uns deine Zukunft mal richtig weissagen«, sagte Miriam, als sie sich aus dem Patschulinebel der Enttäuschung befreit hatten und im Mittagsgedränge eines Gehwegs von Chinatown standen. »Egal, ich bin am Verhungern – magst du Dim Sum?«
    »Klar«, log Cicero. Der verschlossene Junge mochte ja sonstwelche Zweifel an der Welt hegen, aber Miriam Gogans Aufmerksamkeiten entlockten ihm Ehrfurcht und Dankbarkeit. »Und wie geht das richtig ?«
    »Mit einem Huhn. Komm. Aber erst essen wir was.«
    Miriam zog Cicero an der Hand durch Chinatown, in prachtvoller Ungeduld, ihm als Bauern das geistige Schachbrett ihrer Stadt zu zeigen. Sie unterschied sich in ihrem Vorgehen kaum von Rose, die ihren pummeligen schwarzen Schützling bei den Bürgerpatrouillen durch Sunnyside mitschleifte. Mutter wie Tochter waren Versionen von Lewis Carrolls Roter Königin, die rannte, um auf der Stelle zu bleiben. Beide markierten städtische Räume wie Flipperkugeln, die unter Glas herumschnellten und jedes Hindernis aufleuchten lassen wollten, bevor die Schwerkraft sie in die unten wartende Falle zog. Nur dass Miriams Runden von einem Hochgefühl beseelt waren, der Kennerschaft, mit der eine Frau aus den Außenbezirken die Kultur von Greenwich Village aufsog und zu ihrem Erbe machte,

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