Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
richtige Antwort ja. Rose hatte ihn mal in dasEgg-Cream-Mekka an der Canal Street mitgenommen. Nicht ganz Manhattan war von Miriam erfunden worden. Doch Cicero log strategisch, schüttelte den Kopf, zog fragend die Augenbrauen hoch und wartete darauf, dass sie ihm erklärte, was er schon wusste. So wie er sich von ihr die Prophezeiung der Henne vorlesen ließ, wiegte er sie auch in dem Glauben an seine Empfänglichkeit für ihre Wunder, seine Leichtgläubigkeit, sogar da, wo er weder empfänglich noch leichtgläubig war. Bei Rose, bei Miriam und bei seiner eigenen Mutter nahm Ciceros Zuneigung immer die Form eines Widerwillens gegen die Desillusionierung an.
Das würde sich ändern.
Miriam und Cicero setzten sich auf die Barhocker am Tresen von Dave’s Eisdiele, auch so einem Revier der Zeitlosigkeit, in dem Männer mit eingedellten Filzhüten unter Beschilderungen aus der Weltwirtschaftskrise Kaffee schlürften und in dem Gläser mit karierten Tüchern poliert wurden, die weder sauber noch dreckig waren. Sie wandten dem säuselnden Chaos auf der Kreuzung von Canal und Broadway die Rücken zu und bestellten auf Miriams Vorschlag hin jeder eine Schokoladen- und eine Vanillemilch. Der Tresenmann mit der weißen Schürze war erst um die Zwanzig, hatte zu seiner Zeit aber schon alles gesehen und verzog keine Miene, als er einer Hippiemieze und einem schwarzen Jungen vier Egg Creams zusammenzischte, ja, er hörte nicht mal auf zu pfeifen. Das rotkehlcheneiblaue Hemd unter der Schürze hatte der Mann bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und die Sehnen und Muskeln spannten sich hypnotisierend an den Unterarmen, während er mit einem langen Löffel den Sirup unten in den Gläsern verrührte. Miriam hielt das Kärtchen mit der Prophezeiung der Henne Clara hoch und schaute finster drein, um die Dramatik zu steigern. »Bist du bereit? Hey, Cicero, hörst du überhaupt zu?«
»Klar.«
»Das ist ein Knüller, kann ich dir sagen.«
»Was?« Cicero erkannte an seiner Stimme, dass er den Köder geschluckt hatte, und fühlte sich wie ein Sieben- oder Achtjähriger, derauf dem Schulhof veräppelt wurde, und nicht wie der ausgefuchste spitzfindige Teenager, der er inzwischen war.
»Du bist auf Erden gesandt worden, um Revolutionen anzufachen und den Menschen auf mannigfaltige Weise den Geist zu erweitern.«
»Das steht da nicht.« Er griff nach der Karte, sie zog sie weg.
»Klar steht das da – auf Chinesisch. Lass mich ausreden. Junge, ist das ein ausgeflipptes Huhn. Alle Straßen führen ins Nichts, wähle die deine mit dem Herzen! Schau nie zurück, etwas könnte dich einholen. Sie sagte, wer hat dir all diese Flöhe ins Ohr gesetzt – hey, Cicero, magst du die Beatles?«
»Was steht da wirklich?« Durch Miriams ausweichendes Verhalten war er jetzt doch angetan von der Dringlichkeit der zensierten Hühnerweisheit.
»Welchen Beatle hast du am liebsten?«
Das war einfach: Paul. »Ringo. Was steht auf der Karte?«
Miriam schlenzte die Glückskarte des Huhns wie eine winzige Frisbeescheibe durch Dave’s weit offenes Fenster auf den Gehweg der Canal Street, den Passanten unter die Füße. »Scheiß drauf, so toll war’s auch wieder nicht. Weißt du, was Rose gesagt hat, als ich ihr Sgt. Pepper’s vorgespielt hab?«
»Nee, was denn?«
» Ich hör erst zu, wenn sie aufhören zu kreischen. Das ist ein wörtliches Zitat.«
»Ha.«
»Findest du das nicht komisch, dass sie sich an die Spitze der Anti-Kreisch-Brigade setzt? Hör mal, wie läuft es eigentlich mit dir und ihr?«
Cicero wusste nicht, ob er die Frage richtig verstanden hatte. »Ganz okay.«
»Mir kannst du’s ruhig sagen, Junge.«
»Was denn?«
»Ein Beispiel zum Beispiel. Das Schlimmste, was sie in deiner Gegenwart je gemacht hat. Mach schon – dir würd ich auch dieschlimmste Lüge abkaufen, die dir nur einfällt.« Miriam trank ihre Vanillemilch aus und schlürfte durch den Strohhalm die Schaumreste hoch.
Waren Miriams Gesprächsschlenker eigentlich Schlenker oder Explosionen? Sie tanzte auf ihrem eigenen Minenfeld, war Ciceros Eindruck. Das Schlimmste, was Rose Zimmer je getan hatte, war jedenfalls außer Sichtweite von Cicero geschehen: ihre Inbesitznahme und fortlaufende Wiederinbesitznahme seines Vaters. Das Schlimmste? Dass Rose für Cicero überhaupt existierte. Doch dieser Affront ließ sich einfach nicht sinnvoll untersuchen, weil er für das Grundstaunen in Ciceros Leben sorgte, das Dämmern der Erkenntnis, dass er in eine Welt der
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