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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Lügner hineingeboren worden war und nicht selbst ihr erster war.
    Was wusste Miriam von der Situation? Nach Ciceros Berechnungen fiel der Beginn der Affäre von Rose und Douglas in die Zeit, in der Miriam Sunnyside hinter sich ließ und Richtung MacDougal Street driftete. Selbst wenn sie die Katastrophe nicht mitbekommen hatte, an welchem Punkt hatte sie gemerkt, dass im Kielwasser der Katastrophe ein Kind mitgeschleift wurde? Die Bürgerpatrouille von Sunnyside war 1955 gegründet worden; Cicero war schon unterwegs gewesen, als sein Vater Rose Zimmer kennenlernte.
    »Hat’s dir die Sprache verschlagen? Soll ich dich auf Trab bringen?« Miriam erzählte von ihrer Reise in Roses Küchenherd. Die Beschreibung wurde von krampfartigen, vielleicht unbewusst nachspielenden Gesten begleitet, ihre Finger packten Ciceros Schultern, um Roses Kraft und Jähheit zu demonstrieren. Sie schubste Cicero und sich selbst fast von den Hockern, was den Tresenmann aufblicken ließ.
    Verdutzt, wie er von all diesen Enthüllungen war, ließ Cicero dann vielleicht, vielleicht auch nicht, die Augen wieder auf den sehnigen Armen unter den hochgekrempelten Ärmeln ruhen. Irgendwie registrierte Miriam diese Möglichkeit, als sie wieder Haltung annahm und die Nachahmung der dämonischen Rose in ihrem Mienenspiel in den Hintergrund trat. Vielleicht war ihr, wenn auch zu spät, aufgegangen, dass nichts, was Cicero bestenfalls beisteuern konnte, dem ebenbürtigwar, was sie gerade offenbart hatte: Das Spiel war vorbei, bevor es angefangen hatte. Sie wechselte das Thema, ohne anzukündigen, was genau das neue Thema war.
    »Ach, das hab ich vergessen, ich soll dir noch was von dem chinesischen Huhn ausrichten.«
    »Und das wäre?«
    »Wear your love like heaven.« Ihre Augen huschten zu dem jungen Mann hinter der Bar, aber der war in seiner mürrischen Attraktivität von ihnen schon wieder gelangweilt und polierte mit seinem schmuddeligen Trockentuch den silbernen Schwanenhals eines Siruphahns.
    So einfach also ließ sich über einem, man konnte es nicht anders sagen, pissedünnen Milk-Shake die Zeit anhalten, so bekam ein Leben ein Mittelgelenk. Besonders Ciceros. Miriam hatte ihn durchschaut. Anders als die älteren Jungen, die Cicero und einem Dutzend anderer jüngerer Schüler in den Umkleiden der Sunnyside Intermediate »Homo« nachriefen und die Cicero nicht täuschen musste, weil sie weder wussten, was das Wort bedeutete, noch unterscheiden konnten, wem sie es nachriefen. Anders auch als die vier oder fünf ruhelosen, niedergeschlagenen, hungrigen Männer, die Cicero im Lauf des letzten Jahres taxierende Blicke zugeworfen hatten, wenn sie auf dem Gehweg an ihm vorbeiliefen. Vor diesen Männern, die er nicht näher kennenlernen wollte, brauchte er sich nicht zu verstecken. Ein trotzig erwiderter Blick genügte, und er hatte wieder einen Wissensfitzel für die Akte von Typen, in die er sich nicht verwandeln wollte. Miriam war anders. Er hatte sich vor ihr versteckt, wie er sich vor seinen Eltern und vor Rose versteckt hatte und wie er sich vor den wenigen beflissenen Lehrern versteckt hatte, denen seine Intelligenz aufgefallen war. Miriam hatte ihn trotzdem durchschaut.
    Dann steuerte sie ihn genauso unbändig erneut in eine andere Richtung. Später sollte sich Cicero zusammenreimen, dass sie ihn nur nicht in Verlegenheit bringen wollte, weil er als invertiert durchschaut worden war, wie das damals, sei’s auch verständnisvoll, noch genannt wurde – zumal der Barkeeper vom Dave’s wirklich herrliche Armehatte, die die lüsternen Blicke der beiden, denen das nicht entgangen war, verdient hatten. Ciceros Verunsicherung nahm dadurch aber eher zu als ab. War das wirklich passiert, oder bildete er sich das bloß ein? Oder stellte Miriam auf seltsame Weise eine Beziehung zwischen den beiden Blitzschlägen her? Der zweite kam, als sie sich den Bauch rieb und Grouchos Gesicht verzerrte, indem sie die Hände kreisförmig unter dem T-Shirt bewegte.
    »Du weißt, warum ich nach dem ganzen Dim Sum noch zwei Egg Creams haben wollte, oder?«
    Im ersten Moment dachte Cicero, sie spielte auf sein Übergewicht an. Fette Schwuchtel. Aber genauso blitzartig ging ihm die Wahrheit auf. Als hätte sie gemerkt, dass er daran gedacht hatte, dass seine Mutter am Anfang der Affäre von Rose und Douglas mit ihm schwanger gewesen war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen und wollte alle diese Punkte verbinden: Ich bin schwanger, du bist homosexuell, uns verbindet

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