Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
dieser spannende Ungehorsam gegenüber Rose, die deinen Kopf in den Herd stecken würde, wenn sie die Wahrheit wüsste. Miriam war zwar mit dem Folksänger verheiratet, und es gab keinen Grund, warum eine Schwangerschaft illegitim oder schlimm gewesen wäre, trotzdem war Cicero sicher, dass er gerade in ein gefährliches Geheimnis eingeweiht worden war.
Miriams Begabung für weltläufige Andeutungen, dieselbe Zweideutigkeit, die Studenten für das Mädchen von der Highschool hatten schwärmen lassen: Immer wusste sie mehr, als sie wusste, und was sie wusste, war, dass alles insgeheim und sexy verbunden war. Ihr Lächeln sagte Cicero, Es ist alles wahr. Wie konnte sie mit all diesen Geheimnissen an ein und demselben Tag an der Ecke Canal und Broadway herausplatzen? Cicero, der als einziger Widerstand geleistet hatte, als in seiner Gruppe an der Sunnyside Intermediate der Aberglaube ausbrach, der als einziger unberührt blieb von dem Gedanken, dass an dem heraufziehenden Zeitalter des Wassermanns etwas dran sein musste, wenn die Miracle Mets im selben Jahr die World Series gewannen, in dem erstmals menschliche Helden die Mondoberfläche betraten,und dass Neunzehnhundert-69 wirklich eine Sexstellung war, wenn man sich das bloß von einem älteren Teenager bestätigen lassen konnte! – Cicero also musste seinen Widerstand gegen Zeichen und Wunder vielleicht doch noch aufgeben.
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Wenn man Zeichen nämlich keine Macht zugestand, warum dann ein Herd? Ein Herd! Mit allem konnte man einen Selbst- und Tochtermordversuch unternehmen, mit einer Steckdose, einer Schachtel Tabletten, einer Guillotine, allem möglichen. Wie oft hatten Cicero und Rose nicht Begegnungen mit diesem oder jenem Überlebenden gehabt, und nach der Unterhaltung in stockendem und aufgebrachtem Jiddisch hatte Rose (oft noch in Hörweite, wie Cicero fürchtete) Treblinka oder Auschwitz gemurmelt oder geflüstert. Gealterte Seelen, auch wenn sie erst dreißig oder vierzig Jahre alt waren und in den Lagern noch Kinder gewesen sein mussten, vielleicht in Ciceros Alter. Die Überlebenden bewegten sich auf schiefen Gehwegen und kamen kaum mit den schmalen Gängen eines Kiosks oder mit einer Parkbank klar, und ihr Flüchtlingsdasein war nichts als das lange Nachspiel ihres lebensbestimmenden Traumas. Roses gemischte Gefühle enthielten irgendwie aber nicht nur Trauer und Wut auf die Deutschen, sondern auch Bewunderung für deren teuflischen Sachverstand und Verärgerung darüber, dass sie von nun an zum Boykott ihrer Literatur und Schokolade verpflichtet war (die Deutschen haben uns Goethe gegeben, Cicero!), nicht nur unerreichte Tiefen des Mitleids mit dem Leid der Opfer klangen an, sondern auch ein Hauch Verachtung für deren Schlichtheit, ihre Unfähigkeit zum Entkommen, und schließlich ein Spritzer Neid auf ihre nur allzu gerechtfertigten Elendsposen – Rose wusste zu viel, war zu mitschuldig am 20. Jahrhundert, um nur sein Opfer zu sein. Obwohl sie auch das war. Das Jahrhundert hatte sie in der Ausdrucksweise von Ciceros Schulkameraden abgezockt. Wenn die Überlebenden der Lager über die Pflaster von Sunnyside schlichen,lastete auf ihren Schultern unter anderem das Stigma des Hitler-Stalin-Pakts, und damit piesackten sie Roses verletztes Innerstes.
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Der Cicero jedoch, der an einem kühlen Novembertag im Jahr Neunzehnhundertsexstellung auf einem Barhocker im Dave’s saß, der Cicero an der Ecke Canal und Broadway bei Anbruch des Zeitalters des Wassermanns, aber ohne auch nur einen einzigen Planeten mit essentieller Würde, der Cicero, dem fast der Schädel explodierte vom Nachhall all dessen, was Rose Zimmers Tochter ihm an diesem Nachmittag eingeflößt hatte – wenn Miriam mit dem Baby des Folksängers schwanger war, der bald auf den Namen Sergius getauft würde, dann war auch Ciceros Verstand befruchtet worden, ging schwanger mit den Folgen, die es für ihn haben mochte, wenn er Rose und Sunnyside verließ –, der Cicero auf dem Hocker war noch ein zum Schweigen gebrachter Cicero. Ein pausbäckiges und, Entschuldigung, SCHWARZES Loch ungeborener Folgen und deren in ihm zum Schweigen gebrachter Nachhall. Geboren als Maschine zur Entlarvung von Schwachsinn, war er auch eine Maschine zur Produktion von Schweigen. Die Schlauheit, die Rose all ihren Bemühungen zum Trotz in Cicero nur gefördert hatte, war von Miriams rauschhaft wilder Weltumarmung heute umgekrempelt – genau: invertiert! – worden. Und weil sie ihn durchschaut hatte.
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